Die Kapsel - Entwurf einer Novelle / Kurzgeschichte

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markoose
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»Drogen«

Beitrag von markoose » Do 3. Apr 2014, 20:39

June und Johnny jodelten immer noch ohne Unterlass. Peter überlegte, ob er sich vielleicht einen anderen Song aussuchen konnte, sodass er wenigstens etwas Abwechslung hätte.
»Reka, spiel bitte Ring of fire.«
»Tut mir leid, Peter. Der Song ist nicht verzeichnet.«
Peter wollte schon fragen, ob das ein Scherz wäre, schluckte die Worte aber mit der bitteren Erkenntnis herunter, dass Reka offensichtlich nur Cash-Songs gespeichert hatte, diese aber unter den Titeln anderer Interpreten. »Dann wechsle in den Zufallsmodus.«
Das Lied wurde ohne Unterbrechung weiter gespielt. Peter verdrehte nur die Augen
Skeptisch und missmutig sah er in den Fußraum, in dem sich das nunmehr durch den Löschschaum glitzernde Wasser mittlerweile mit den aufgeweichten Resten des Kartoffelbreis vermischt hatte. Als Hauptproblem schätze er die verklemmte Tastatur ein, die jedwede Arbeit im Fußraum nahezu unmöglich machte. Erneut betrachtete er das verkantete Eingabeinstrument und wollte sich unterbewusst an seiner linken Hand kratzen.
Diese stieß allerdings auf das Piloteninterface. Peter sah auf die Hand in der Metallmanschette und kniff die Augen zusammen. »Reka, mich juckt es an meiner linken Hand. Insekten gibt es hier wohl nicht. Hast du mir was gespritzt?«
»Das ist korrekt.«
»Was, zum Henker?«
»Frage neu formulieren.«
»Reka, was hast du mir gespritzt?«
»Ein Beruhigungsmittel.«
»Wie kommst du dazu, mir einfach ein Beruhigungsmittel zu spritzen?«
»Wenn bestimmte Parameter der Körpermessungen in den kritischen Bereich steigen, bin ich autorisiert, den Passagier zu seinem Schutz zu sedieren.«
»Den Pass ... Schutz ... Reka! Wer hat dich in Gottes Namen autorisiert?« Peter wusste die Antwort schon. Er konnte es einfach nicht fassen.
»Der Name des Programmierers der Seelsorge war Dieter Fitzenbach. Wer ist Gott?«
»Wer Gott ...?« Peters Fassungslosigkeit schlug nach einem kurzen Ausflug in die Verärgerung in Neugier um.
»Was darfst du mir noch alles verabreichen?«
»Ich verfüge über eine Auswahl an verschiedenen Sedativa, Aufbauspritzen und Breitbandantibiotika, die ich im Falle einer Indikation anwende.«
»Und was genau hast du mir gespritzt?«
»25mg S-Ketamin und 15 mg Dormicum in 20ml 0,9 prozentige Natriumchloridlösung.«
It should be a while before I see doctor Death - So, it would sure would be nice if I could get my breath. Das Countryduett war zum Ende gekommen und der Zufallsmodus hatte Like the 309 ausgewählt.
Peter krächzte ein kurzes Lachen hervor und grinste dann böse. Er musste schnell handeln, um nicht wieder in ein Loch zu fallen und von Reka schlafen geschickt zu werden. Oder? Warum eigentlich nicht?
Er schüttelte den Kopf, um den zerstörerischen Gedanken zu loszuwerden. Seine Füße fühlte sich scheußlich aufgeweicht an. Trotz der Musik und der Schmerzen musste er dringend etwas gegen das Wasser tun. Aber was? Die herausgefahrene Tastatur behinderte jede seiner Bewegungen. Er wollte nicht riskieren, sie zu beschädigen, da sie vielleicht noch die einzige Möglichkeit war, irgendwie auf die Kapsel Einfluss zunehmen. Mit seinem Verband, der mittlerweile nach Urin stank, war er in seinen Reparaturmöglichkeiten an der Gleitschiene des Keyboards ebenso eingeschränkt.
Peter sah sich wieder einmal in seiner goldenen Technikkäfig um. Er hatte allerdings wenig Hoffnung. Irgendwie musste er seine Füße nur elf Zentimeter höher lagern. Die Kopfstütze würde nicht reichen. Flattrig glitten seine Hände über seine gesamte Umgebung, bis sie zusammen mit seinem Blick am Versorgungsfach hängen blieben. Sah man genau hin, erkannte man, dass das Fach eine Kipplade war. Behutsam nicht nur der Schulter wegen öffnete er es und rüttelte prüfend daran.
Die Lade schien tatsächlich herausnehmbar zu sein. Eigentlich ja logisch. Irgendwie musste sie ja auch da hinein gekommen sein. Peter vermutete, dass man sie erst entriegeln musste, doch er sah keine Vorrichtung dafür. Schließlich räumte er den gesamten Inhalt des Versorgungsfaches heraus, was sich als äußerst schwierig erwies. Die Füllung der Erste-Hilfe-Tasche, die man sowieso nur in einem High-Tech-Labor unter Anleitung erfahrender Packer wieder hätte einräumen können, darunter die hoffnungslos zerknüllte Rettungsdecke und viele verschiedene kleine weiße Päckchen. Dazu kam der Schnaps und die anderen Dinge, die er hinein getan hatte, um sie aus dem Weg zu haben, und natürlich die zahllosen Speiseplatzhalter aus Pappe.
Anfangs stopfte er die Sachen einfach hinter sich, doch irgendwann ging das nicht mehr, da er sonst durch sein eigenes Nach-vorne-rutschen keinen Platz gehabt hätte, um die Lade überhaupt heraus zu bekommen. Seitlich konnte er noch einiges unterbringen und am Ende musste sogar die Schleuse herhalten. Endlich hatte er das Versorgungsfach entleert.
Nun war ein Schild frei geworden, auf dem Nur für Lebensmittel. Stand. Darüber war das Lebensmittelverträglichkeitszeichen.
Konsterniert verzog Peter kurz den Mund und beugte sich, soweit es ging zur Seite, um in das Fach blicken zu können. Schon purzelten die ersten Gegenstände hinter ihm in den Fußraum. Hinzu kam, dass der frischgebackene Raumtechniker überhaupt nichts sah, dar er die einzige Lampe in der Kapsel mit seinem eigenen Körper verdeckte. Schon lag ihm wieder ein Fluch auf den Lippen, doch er konnte sich beherrschen.
Nachdenklich lehnte er sich zurück, als ihn etwas im Rücken drückte. Die Schnapsflasche hatte sich gedreht. Umständlich aber vorsichtig fischte er sie mit der Linken hervor und stellte sie nach kurzer Überlegung seitlich zwischen Wand und Fuß ins Wasser.
Langsam drehte er sich und sah auch schon was er suchte. Die Taschenlampe des Survivalpacks. Er nahm sie in die linke Hand, da die rechte ja verbunden war. Es stellte sich heraus, dass es eine Induktionstaschenlampe zum Schütteln war. Schon schüttelte Peter kräftig und sofort schoss ihm der Schmerz wieder aus der linken Schulter in Brust und Magen. Einen Fluch zwischen seinen Zähnen zermalmend wechselte er die Hand und begann erneut. Endlich tat die Taschenlampe, wozu sie gebaut war. Sie leuchtete.
Dieses Mal war der Blick in das leere Versorgungsfach ertragreicher. Peter konnte am Boden des etwa dreißig Zentimeter tiefen Innenraums eine Art Hebel ausmachen, neben dem sogar ein Pfeil zu sehen war.
Nicht ohne Stolz und Schmerzen betätigte er den Hebel mit dem Ringfinger und zog gleichzeitig mit der anderen Hand. Ein Klacken bestätigte die Entriegelung und schon hatte Peter die Lade in der Hand. Ein Lächeln spielte über seine Lippen. Es verstarb allerdings so schnell, wie es gekommen war, als er die Lade in den Fußraum schieben wollte. Er saß jetzt schon beinahe mit dem Bauch an der Tastatur und diese schwebte gerade mal eine gute Hand breit über seinen Schenkeln.
Peter bewegte sein Hinterteil, um sich etwas Platz zu verschaffen, worauf wieder einige Dinge ins Wasser flogen. Jetzt zog er den Bauch ein, drehte die Lade, so dass sie flach vor ihm lag, und versuchte sie unter dem Keyboard und zwischen seinen Beinen hindurch zu schieben. Er presste seine Füße an die Wände des Fußraums und spürte, wie empfindlich die aufgequollene Haut war. Er glaubte, das Gewebe der Socken zu in all seiner Feinheit spüren zu können, schmerzhaft spüren zu können.
Peter drückte und die Lade fügte sich widerwillig ihrer neuen Verwendung. Der Anfang war gemacht und die Lade passte sogar unter die Tastatur, aber nur zu dem Preis, dass er seine Knie über sein untrainiertes Maß hinaus spreizen musste. Er konnte förmlich spüren, wie seine Hüftgelenke im Becken ächzten. Noch ein kleines Stück. Jetzt konnte er zumindest wieder normal atmen. Das Ziehen in den Sehnen, die den Unterleib mit den Schenkeln verbanden, war sehr unangenehm. Noch ein Stück, die Lade war fast im Fußraum, da verspannte sich sein rechter Oberschenkel. Peter hatte einen Krampf.
Der Schrei drang aus der Tiefe seiner Brust. Die Schmerzen im Bein trübten seinen Verstand. Er brauchte ein Ventil. Sein Schrei ging in unmenschliches Gurgeln über, das sich mit einem kurzen Wimmern abwechselte. Um die Tastatur nicht zu beschädigen, schlug er aus purer Verzweiflung mit der Linken gegen die Scheibe und schrie wieder.
»Bitte Piloteninterface anl ...«
»Peter, deine Körperfunktionsparameter zeigen großen Stress. Beruhige dich und atme.« Reka hatte sich irgendwie gegen die Tonbandstimme und den Wackelkontakt behaupten können.
»Ich ha ... habe einen Krrrampffff ...« Endlich brannte sich der Gedanke, die Lade weiter zu schieben, durch den Schleier der Pein in sein Bewusstsein und er gab ihr einen Stoß.
Mit einem hohl plätschernden Geräusch landete sie im Fußraum. Er streckte die Beine durch, so gut er konnte, doch jetzt hinderte in die Lade in der Bewegung. Unnatürlich seitlich verrenkt stemmte Peter das rechte Bein gegen das Bodenblech des Fußraums, doch die verkrampften Muskeln hielten die Anspannung weiter aufrecht. Er konnte spüren, wie sich seine aufgeweichten Zehen in die Kappen der Turnschuhe pressten und glaubte, seine Zehennägel würden gerade ins Nagelbett getrieben. Der Schmerz war fasst so unerträglich, wie der Krampf. Lächerlich klein dagegen war der Schmerz, den er jetzt in der linken Hand verspürte.
»Krampflösendes Mittel injiziert.«
Schon Augenblicke später entkrampfte das Bein. Peter ließ sich matt nach hinten fallen. Er lag nun im Hohlkreuz auf einem Berg aus Mull, Heftpflaster und Jägerschnitzelschildern. Peter wurde die Countrymusik wieder gewahr. Genervt fingerte er erst mit der Linken, als die Schulter dann schmerzte, mit der Rechten den ehemaligen Inhalt der Lade hinter seinem Rücken hervor und warf ihn achtlos von sich. Ermattet schloss Peter die flattrigen Lider und atmete durch. So lag er für einige Momente und sammelte Kraft. Schließlich hob er seine Beine mit einem Seufzen nacheinander aus dem Wasser, legte sie auf die Lade und zwang diese so unter Wasser. Mit einem gurgelnden Rauschen lief sie voll und blieb unten.
Peter hielt die Augen geschlossen. Es gelang ihm sogar, die Musik zu verdrängen und er hörte sich beim Atmen zu. Das beruhigte ihn. Er atmete, er war also noch am Leben. Sein Körper entspannte sich merklich, doch sein rechtes Auge schien davon nichts mitbekommen zu haben. Es zitterte, sodass er es weder geschlossen, noch offen halten konnte.
»Reka, verdammt, was ist mit meinem Auge los? Es zittert.« Peter presste den Handballen auf das flimmernde Lid.
»Immer fluchen Peter, das tut gut. Es ist möglich, dass ich das Methocarbamol zu schnell injiziert habe. Das kann zu Augenzittern führen. Ich bitte um Verzeihung.«
Erneut hatte Reka Peter überrascht. Sie hatte ihn in einem beinahe versöhnlichen Ton um Verzeihung gebeten. Er wusste im Augenblick nicht recht einzuordnen, wie oder warum, aber Reka veränderte sich.
»Super. Ich bin mal gespannt, welches Körperteil nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde, nachdem ich hier wieder raus bin.«
Reka antwortete nicht und Cash dudelt weiter, was zu einer lauten Stille führte. Peter wurde unangenehm daran erinnerte, dass er hier vielleicht gar nicht mehr lebend herauskam. Er presste die Lippen aufeinander und schluckte, als wolle er den hässlich bitteren Geschmack der Lebensgefahr aus seinem Mund verbannen. Es gelang nicht und er ließ die Hand sinken.
Das Zittern war schwächer geworden. Peter zwang sich nun dazu, beide Augen wieder zu öffnen. Sein Blick fiel auf seine nassen Füße, die er durch den Spalt zwischen Tastatur und Armaturenbrett sehen konnte. Ihm graute vor dem, was jetzt bevorstand. Er musste die Schuhe ausziehen, aber seine Füße waren nach den vielen Stunden im Wasser völlig durchweicht. Komischerweise war ihm der Begriff ‚Immersionsfuß’ im Gedächtnis geblieben. Angeekelt von der Vorstellung aufgeweichten Fleisches wich er dem Anblick seiner eigenen Füße aus und sah nach rechts. Peter glaubte nicht, was er sah. Langsam hob er wieder den Handballen an das zitternde rechte, um mit dem linken Augen scharf sehen zu können.
In der nun klaffenden Lücke, die die fehlende Lade hinterlassen hatte, war ganz unten eine Art Trichter zu sehen. In dem Trichter steckten die aufgeweichten Überreste einer Zigarette und daneben klemmte ein angefangenes Päckchen, aus dem sie wohl stammte.

markoose
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»Erst die Arbeit …«

Beitrag von markoose » So 27. Apr 2014, 13:24

Peter entfuhr ein undefinierbarer Grunzer, der aus einem Kampf zwischen Überraschung und Frustration entsprungen war. Jemandem vom Wartungspersonal war offensichtlich das Päckchen aus der Tasche gefallen und eine der Zigaretten hatten den Auffangbehälter für das Kondenswasser verstopft. Peter dachte nicht mehr lange nach und fingerte kurzentschlossen die kläglichen Überreste des Glimmstengels aus der Öffnung und griff dann nach dem Päckchen.
Feierlich hob er sie ins Licht begutachtete den Inhalt. Drei leicht zerknitterte aber durch aus noch funktionsfähige Zigaretten raschelten in der Weichpackung umher. Die Packung selbst war schwarz, wie alle Zigarettenpackungen. Ebenfalls wie bei allen anderen prangten darauf Bilder, die mit großer Wahrscheinlichkeit einem medizinischen Lehrbuch über Lungenkrebs entstammten. Oberhalb der Bilder war ein kleines Dromedar zu sehen und daneben der Schriftzug ‚Camel’.
Peter schmunzelte. Das letzte Mal, als er von dieser Marke geraucht hatte, war zweiundzwanzig gewesen. Für einen Moment schossen ihm wieder Bilder seines Studiums durch den Kopf, doch der Geruch der Packung riss ihn zurück in die Wirklichkeit. Er wollte schon das Tabaktrio zum Duo machen, als er stockte. Nein, erst die Arbeit dann das Vergnügen. Ein Blick auf den Monitor verriet ihm, dass er noch 234235 Stunden bis zum Mond hatte. Er wollte zuerst seine Füße trocken bekommen und ein bisschen aufräumen. Der Begriff ‚Klarschiff machen’ kam ihm in den Sinn. Wieder lächelte Peter, war er ja in gewisser Weise Kapitän dieser winzigen metallenen Hülse der menschlichen Zivilisation.
Sorgsam verstaute er die Zigaretten in der Brusttasche seines Overalls und zwang sich, auf seine Füße zu schauen. Die neuen Turnschuhe sahen unverändert aus, aber wusste, Dank Rekas Beruhigungsspritze hatte seine Füße zulange im Wasser gelegen. Er musste äußerst behutsam vorgehen. Wo war das Taschenmesser?
Verdammt! Er hatte es doch extra in das Versorgungsfach gelegt, um es später nicht suchen zu müssen. Jetzt hatte er den Salat. Vorsichtig und bemüht, nichts unnötig vom Sitz ins Wasser zu stoßen drehte er sich unter einigen Schmerzen und versuchte, das begehrte rote Objekt in all dem Durcheinander zu entdecken. Als er sich ganz nach rechts drehte, hörte hinter sich ein lautes Platschen, was sich verdächtig nach einem etwa zehn Zentimeter großen harten Gegenstand angehört hatte, der ins Wasser fiel.
Peters Freude über die Zigarette war gerade wieder im Begriff, sich in Frustration und Wut über seine Situation umzuschlagen, doch er konnte ein Fluchen unterdrücken. Es dauerte einige Zeit, bis er das Messer aus dem Wasser geangelt hatte, aber schließlich lag es in seine Hand.
Er klappte es auf und fuhr vorsichtig mit der Klinge nach oben gerichtet unter die Schnürsenkel des rechten Fußes. Einen Anfang zu machen, war nicht ganz leicht, da die alles aufgequollen und entsprechend eng war. Deutlich und schmerzhaft spürte er den Messerrücken auf seinem Fuß. Jedes Mal, wenn er unter einem Schnürsenkel war, musste er entweder hin und her schneiden oder den Druck erhöhen, was zu weiteren Schmerzen führte. Doch Dank der ungebrauchten scharfen Klinge hatten es die Schnürsenkel nun hinter sich. Peter setzte den linken Fuß hinter den rechten und wollte den Schuh abstreifen, doch schon der Ansatz ließ ihn aufschreien.
»Peter, ist alles in Ordnung? Wie kann ich dir helfen?«
Peter konnte nur durch die zusammengebissenen Zähne antworten. »Lass nur, da muss ich alleine durch.« Er entschied sich, weitere Teile des Turnschuhs abzuschneiden, doch trotz der scharfen Klinge erwies sich das als langwierig.
Der Raumfahrer wider Willen war wieder einmal schweißgebadet, vor Anstrengung und vor Schmerzen, doch beide Schuhe lagen nun zerfetzt und zerschnippelt im Wasser. Durch die weißen Socken konnte Peter an den linken Zehen und am rechten Fersen Blut erkenne, was wohl das Ergebnis seines ersten Versuches war, den Schuh auszuziehen.
Für einen Moment saß Peter wieder keuchend da. Er hatte mittlerweile so großen Hunger, dass er seinen Magen regelmäßig knurren hörte. Gegen den aufkommenden Durst konnte er ja etwas tun.
»Trinken.«
Gehorsam fuhr das Röhrchen herunter und Peter trank.
»Wasservorrat bei 19 Prozent.«
Nach dem er seine Füße noch einmal begutachtet hatte, würde er die Socken wohl auch herunter schneiden müssen, um nicht noch mehr Verletzungen hervorzurufen. Das war mit dem scharfen Messer nicht ganz ohne.
Nach ein paar kritischen Momenten, in denen scharfes Metall an aufgeweichter Haut vorbei geführte werden musste, hatte er seinen rechten Fuß befreit. Er sah übel aus. Der erste Versuch, den Schuh auszuziehen, hatte Teile der Fersenhornhaut bis aufs Fleisch abgelöst. Peter ließ einen halblauten Schluchzer von sich.
Nach weiteren kleinen Ewigkeiten fiel der zweite Socken mit einem sattten Platschen ins Wasser. Die Zehen des linken Fußes sahen ähnlich aus wie die Ferse des rechten. Peter wurde schlecht. Verbittert kämpfte er die aufwallende Übelkeit nieder. Er hätte eh nichts von sich geben können. Wie zur Bestätigung seiner schlimmen Lage fiel wieder einer der zahllosen Gegenstände, auf denen er saß, ins Wasser.
Er musste den Fußraum trocken bekommen, wenn er seine Füße richtig verbringen wollte.
»Reka.«
»Ja, Peter.«
»Der Auffangbehälter unterhalb des Versorgungsfaches ist der für das Kondenswasser, richtig?«
»Korrekt.«
»Wird dieses Wasser gereinigt?«
»Ja, dieses Wasser wird in der extra für mich entwickelten Kompaktkläranlage gereinigt. Sämtlichen Flüssigkeiten, die an Bord entstehen, kann hier das Wasser entzogen werden.«
In seiner Vermutung bestätigt faltete er aus einem der Pappschilder einen Trichter für den Auffangbehälter und wollte mit einem weiteren einen Schöpfbehälter falten, was aber kläglich misslang. Peter starrte frustriert vor sich hin und sah einer Socke zu, die in der schmutzig glitzernden Brühe schwamm. Nun lächelte er wieder. Das er da nicht früher drauf gekommen war.
Peter nahm die Socke und wrang sie über dem Trichter aus. Es war mühselig und Vieles ging daneben und doch leerte sich der Fußraum nach und nach, sodass die immer noch laufende Heizung die restliche Feuchtigkeit vertrieb.
Wenn die Tastatur ihn beim Verbinden seiner Füße nicht so dermaßen behindert hätte, wäre Peter sogar richtiggehend zufrieden gewesen. Endlich saß er in seinem nun wieder freien Sessel. Er hatte kurzerhand alles, was er im Augenblick nicht zu brauchen glaubte, unter den Sitz gestopft, da ein Wiedereinbau der Lade für ihn und seine Oberschenkelgelenke nicht in Frage kam.
Er sah auf seine dick bandagierten Füße und legte sie vorsichtig wieder auf der Lade im Fußraum ab. Jetzt, ja jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Peter nestelte mit der Linken eine Zigarette aus der Brusttasche und klemmte sie zwischen die Lippen. Die Streichhölzer musste er dank seiner bandagierten Rechten spiegelverkehrt halten, aber es ging. Der Streichholzkopf entflammte, er sog gierig und schmeckte den derb würzigen Tabak. Zu dem Geschmack gesellte sich eine bekannte Frauenstimme.
»Achtung, Bordbrand! Lebensgefahr! Halten sie sich von den Flammen fern! Löschmaßnahmen werden eingeleitet! Schließen sie die Augen und halten sie den Atem an! Schließen sie die Augen und halten sie den Atem an! Drei – zwei – eins!«
»Halt, halt, halt, Reka, warte …« Peters panische Worte wurden unerbittlich im Schaum erstickt.
Wieder sprach die Frau vom Band, wieder klang sie sehr dumpf. »Löschschaum wird in zwanzig Sekunden zerfallen. Noch nicht atmen. neunzehn – achtzehn – siebzehn ...«
Der Schaum zwang Peter zum Schweigen, was die Wut in höchste Höhen trieb, doch sonderbarer Weise, wirkte das Herunterzählen der emotionslosen Frauenstimme wie eben der alte Trick, bei dem man einen Wutausbruch durch langsames Zählen bis zehn unter Kontrolle bringen kann.
»... vier – drei – zwei – eins. Sie können jetzt die Augen wieder öffnen und atmen. Notfallroutine beendet.«
Peters ersten Atemzug schmeckte nach kaltem Rauch. Die glitzernde Zigarette in seinem Mund bog sich durch die Feuchtigkeit nach unten.

markoose
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»Leib und Seele«

Beitrag von markoose » Di 13. Mai 2014, 20:49

Peter starrte reglos auf die Uhr. Die Zahlen schienen zu stehen. Die weiche Zigarette wackelte in seinem Mund. Für einen Moment schien die Zeit wirklich still zu stehen oder er hatte jegliches Empfinden für die sie verloren. Emotionslos wägte Peter kurz ab, ob er diesem Phänomen weiter nachgehen sollte, entschied sich dann aber dagegen, in dem er einfach phlegmatisch verharrte. Er konnte sein Herz ganz deutlich spüren. Bumm-bumm, bumm-bumm, bumm-bumm, ein schwerer Puls, der sich langsam steigerte. Er glaubte, jedes Blutgefäß in seinem Körper wahrnehmen zu können. Abwesend glitt sein Blick von seinem Brustkorb über seine Beine an der Tastatur vorbei bis hin zu seinen bandagierten Füßen. Er konnte das Webmuster der Mullbinden erkennen. Scharf und kontrastreich brannten es sich in seine Netzhaut. Als der schwere Puls dort anlangte, wurden ihm die Schmerzen in seinen Füßen wieder bewusst.
Nach einen kleinen Rast wanderten seine Augen dann am rechten Bein hinauf und blieben an seiner verbundenen Hand hängen. Auch hier pulste sein Blut die Schmerzen in seine Wahrnehmung. Sein Magen knurrte und einmal mehr überkam ihn eine Welle der Übelkeit und des Schwindels. Irgendwo spielte ganz dumpf Musik, aber er erkannte weder die Melodie noch den Rhythmus. Sein Kopf taumelte auf seinem Hals und fiel schließlich nach hinten. Die Kabinenlampe schien heller als gewöhnlich zu leuchten, wie eine Sonne. Es blendete, doch Peter war zu müde, um die Augen zu schließen. Er atmete flach und kaum hörbar verließen einzelnen Silben seinen halbgeöffneten Mund wie ein schwach flatternder Maikäfer, während ein kleiner Tropfen Speichel in seinem Mundwinkel glänzte.
»Hsaß auf einem grünen Baum, hSumm – hSumm – hSumm – Träumte einen schönen Traum, hSumm – hSumm – hSumm – Träumte von Sonne, Mond … hm ... hm … hUnd von fremden Ländern ...«
Die Musik wurde für einen kurzen Moment lauter und dann durch ein Rauschen ganz unterdrückt. Peter hörte sein eigenes Blut in den Ohren. Sein Herz schlug so stark, als wollte es durch die Rippen brechen, dann drehte sich das Armaturenbrett um die Lampe und er fühlte Schmerzen in der Brust.
»Achtung! EKG zeigt ventrikuläre Fibrillation. Initiiere Defibrillation.« Plötzlich hatte wieder die Stimme der anderen Frau gesprochen. Wie aus dem Nichts fuhr etwas an Peters linker Seite und an seiner rechten Schulter aus dem Sessel und drückte sich sofort an seinen Körper.
»Achtung! Defibrillation!«
Peter glaubte, ein unsichtbarer Riese schlüge ihm auf Schulter und Brust. So einen Schmerz hatte er noch nie erlebt, doch so heftig er gewesen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Er zwinkerte ungläubig mit den Augen und sah sich um. Der Schwindel und die Brustschmerzen waren weg. Cash sang gerade A ring of fire.
»Rek ...« Peter fiel die Zigarette aus dem Mund.
»Reka, um Himmels Willen! Was war das?«
»Laut dem Bordprotokoll hattest du Kammerflimmern, was eine sofortige Intervention des Notfallprogramms nach sich gezogen hat.«
»Herzkam … und woher kommt so was?«
»Herzkammerflimmern kann vor allem bei Menschen mit Herzerkrankungen auftreten. Weitere Ursachen sind Stromunfälle oder falsche Medikation.«
Peter kniff die Augen misstrauisch zusammen und tastete nach den Stellen, an denen ihm der Stromschlag verpasst worden war. »Das, was du mir vorher gespritzt hast, S-Kamin oder so, kann das Kammerflimmern hervorrufen?« Er spürte jeweils einen schmierigen Fleck auf seinem Overall, der wohl von dem Kontaktgel des Defibrillators herrühren mochte.
»Ich habe S-Ketamin und Dormicum injiziert. In dieser Kombination gilt das Auftreten von Kammerflimmern als unwahrscheinlich.«
»So, so. Unwahrscheinlich.« Peter war sich nicht ganz schlüssig, was er nun glauben sollte. Hatte ihn Reka falsch behandelt oder war er mit dem Sicherungskasten wirklich zu leichtsinnig umgegangen. So oder so hatte ihm der Bordcomputer gerade das Leben gerettet.
Unschlüssig, ob er sich nun ärgern oder freuen sollte, holte Peter die Flasche mit dem Schnaps hervor und nahm einen kräftigen Schluck. Der schwach fruchtige Geschmack wurde sofort vom Alkohol weggebrannt, was ihn endgültig wieder in die Gegenwart holte. Ab jetzt konnte er wohl zweimal Geburtstag feiern. Wenn er es genauer betrachtete, würden das nach diesem Raumflug aber wohl bei Weitem nicht ausreichen.

markoose
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Danke

Beitrag von markoose » Fr 23. Mai 2014, 17:11

Liebe Leser des Forums und auch von außerhalb. Ich hoffe, ich stoße jetzt keinen vor den Kopf, aber die Veröffentlichung ging jetzt schneller über die Bühne als erwartet. Es wird hier keine weiteren Kapitel geben.

Ich möchte mich noch einmal bei allen bedanken, die fleißig gelesen und/oder mir ihre Kritik ausgesprochen haben. Vielen Dank. Brachte wirklich weiter und hat motiviert.

"Die Kapsel" ist jetzt als Ebook erhältlich. Wie in der Geschichte gab es auch bei der Veröffentlichung eine kleine technische Panne. Mein Illstrator Hans-Michael Schäffner erscheint als Autor. Hab ein falsches Häkchen gesetzt. Die Behebung wird wohl bis Montag dauern.
Wundert euch also nicht, wenn ihr es jetzt noch nicht unter meinem Namen findet. Auf dem Cover steht er aber schon.

Gruß
Markoose

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