Die Kapsel - Entwurf einer Novelle / Kurzgeschichte

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markoose
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Achtes Kapitel »Meteoride«

Beitrag von markoose » Sa 16. Nov 2013, 20:11

Meteoriden, Meteoriden. Das klang wie Hämorriden. Von Meteoriten hatte Peter schon gehört, aber Meteoride? »Reka, was sind Meteoride?«
»Meteoroide sind meist Staubteilchen, kleine Metall- oder Gesteinskörner aus dem interplanetaren Raum, von denen pro Tag etwa 10 Milliarden vom Weltall aus mit einer Gesamtmasse von 1.000 bis 10.000 Tonnen in die Atmosphäre der Erde einfallen. Wegen ihrer enormen Geschwindigkeit von etwa 11,2 bis 72 km/s – je nach Einfallswinkel zur Bahnbewegung der Erde – verdampfen die meisten in etwa 80 Kilometer Höhe durch Luftreibung; dabei ionisieren sie die Luftmoleküle, was helle Leuchtspuren hervorruft.«von Wiki kopiert (nachweis)
»Wie groß sind diese Dinger eigentlich?«
»Dinge ist der Plural eines Sammelbegriffs. Eine Größe kann hier n...«
»Wie groß sind Meteoride genau?« Seiner Wut entsprechend qualmten die Worte aus Peters Mund.
Wie erwartet reagierte Reka aber in keiner Weise auf seine heißerzornige Stimme. »Meteoride können kleiner als ein zehntel Millimeter sein. Ihre Größe variiert bis über einen Zentimeter hinaus.«
Peter wurde schlecht bei der Vorstellung, dass die Kapsel von gewehrkugelgroßen Teilen mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit durchlöchert werden könnte.
»Und du hast alle Schutzmaßnahmen, die diese Kapsel zu bieten hat, ergriffen?« Peter wurde plötzlich bewusst, mit welch großen Worten er die kläglichen Schilde der Kapsel umschrieben hatte.
»Ja.«
Er schaute auf den Bildschirm. Die berechnete Aufschlagszeit stand bei 21 Minuten. Wieder lief ihm ein Schauer über den Rücken und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob dies alles das Geld wert war, dass sie ihm versprochen hatten. Doch es half nichts. Er war gefangen nächste halbe Stunde, dann wäre laut Minzig der ganze Zauber vorbei und er wieder sicher gelandet.
»Also, mach’s Beste draus.«
»Formulieren Sie die Frage neu.«
»Ich hab’ nicht mit dir geredet.«
»Verzeihung.«
Dieses Programm hatte offensichtlich noch einige Macken und Kinderkrankheiten, aber Reka war hier oben die einzige, mit der er reden konnte. Wenn er ehrlich war, hätte Peter, selbst wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte, nicht einmal gewusst, mit wem er daheim auf der Erde hätte reden sollen. Mit Christiane vielleicht?
Besser nicht. Hätte wohl keinen guten Eindruck hinterlassen, wenn der Exmann sie aus einer Raumkapsel angerufen und ihr erzählt hätte, dass er es ja nur wegen des Geldes machte und bald ein Meteoridenschwarm auf ihn träfe. Peter entschied sich, die Wartezeit bis zum Aufschlag mit einem Gespräch zu verkürzen.
»Reka, wer bist du?«
»Frage bitte neu formulieren.«
»Na, ich meine, woher stammt zum Beispiel deine Stimme?«
»Prüfe meine Dateien.« Es entstand eine kurze Pause. »Die Stimme stammt von Anna Sidolski und wurde digital überarbeitet. Weitere Einträge zu meiner Stimme sind nicht verzeichnet.«
»Wer hat dich programmiert?«
»Der Chefprogrammierer heißt Sven Schmiedkopf. Weitere Einträge sind nicht vorhanden.«
»Kannst du denken?«
»Ich habe 101883 Subroutinen gespeichert, um Prozesse selbständig zu initiieren und zu überwachen.«
»Nein, ich meine, stellst du dir auch manchmal Fragen?«
»Was für Fragen?«
»Na, zum Beispiel, woher komme ich?«
»Als die Systeme der Kapsel hochgefahren wurden, waren sie bereits an Bord. Ich kann keine Aussage darüber treffen, woher sie kommen.«
Peter blies frustriert die Backen auf. »Stellst du dir manchmal die Frage, woher du kommst?«
»Nein.«
»Oder willst du wissen, was passiert, wenn du ausgeschaltet wirst?«
»Nein.«
Peter schwieg eine ganze Weile.
»Soll ich mir die Frage stellen?«
»Was ... Wie bitte?«
»Soll ich mir die Frage stellen, woher ich komme, Peter?«
»Äh, von mir aus.«
»Anwort nicht verstanden.«
»Ja. Meinet wegen.«
»Berechnung der Antwort läuft. Dauer noch unbekannt.«
Peter ärgerte sich über den Einfall, mit Reka ein richtiges Gespräch führen zu wollen. Das hatte ihn lediglich weiter frustriert und mit seinem vielleicht nahen Ende konfrontiert. Was hatte er denn erwartet? Seit Jahrzehnten versuchten die Menschen, künstliche Intelligenz zu erzeugen, waren aber bis jetzt nie über hochkomplexe Roboter, die aufgrund geregelter Abläufe handelten, hinausgekommen.
Ein Bewegung auf dem Bildschirm zog Peters Blick an, eine Zahl war umgesprungen - noch 18 Minuten. Für einen kurzen Moment flackerte in Peter der Gedanke an ein Testament auf, eine Art Abschiedsbrief für den Fall seines Todes. Er könnte die Logbuchfunktion dazu verwenden. Doch so schnell, wie der Gedanke gekommen war, verwarf er ihn auch wieder. Nahe Verwandte oder Freunde hatte er keine. Ehemalige Arbeitskollegen oder gar Christiane mit einem solchen Brief zu behelligen, schien ihm unangebracht. Zu vererben hatte er auch nichts, also kein Abschiedsbrief.
Peter wurde bewusst, wie allein er war und dass nichts von ihm zurückblieb. Nichts erinnerte an ihn, wenn er einmal fort war. Betrachtete man seine Situation ganz nüchtern, so war da niemand mehr außer einem unzureichenden Kommunikationsprogramm und einem offensichtlich inkompetenten Versuchsleiter. Ihm blieb nur er selbst. Und wer war er schon? Ein arbeitsloser Betriebswirt ohne Familie aber mit hoher Flexibilität. Der Raumfahrer wider Willen lächelte bitter. Was würde es schon ausmachen, wenn er sterben würde? Da war nichts und niemand, der ihn hielt oder für den es Wert gewesen wäre, zu leben. Mit einem Mal fühlte er eine unendliche Müdigkeit über sich hereinschwappen. Peter schloss die Augen, die sich schmerzhaft mit Tränen füllten. Was war nur geschehen?
Im wurde klar, dass es keinen Unterschied machte, ob er jetzt zuhause in seiner beschissenen Einzimmerwohnung auf dem Bett lag und die Decke anstarrte oder hier oben vor sich hinsinnierte. Er war ein Niemand und niemand würde ihn vermissen. Peter musste an seine Mutter denken und dann waberten wieder unzählige Bilder seiner Kindheit in sein Bewusstsein, glühende Überreste seines Lebenswillens. Momente, in denen er Wettkämpfe gewonnne, Geburtstage gefeiert oder gute Noten nachhause gebracht hatte. Er roch die Wärme und den Kücheduft, der sich mit der Handcreme mischte, als seine Mutter ihn einmal tröstend in den Arm genommen hatte. Bilder großer Momente und auch kleiner zogen an ihm vorüber und Peter weinte.
Ein Piepsen drang mühsam zu ihm durch. Mit verschwommenem Blick starrte er auf den Bildschirm. Von dem Countdown waren nur noch sechse Sekunden übrig – fünf – vier – drei – zwei – eins.
Stille, nur das leise Rauschen der Klimaanlage. Nichts passierte, während ihn die vier Nullen der Uhr verständnislos anblickten. Peter begann, langsam zu zählen. Die Augenblicke verstrichen und es geschah nichts. Hatten ihn die Meteoride verfehlt? Er wischt sich unbeholfen die tränennassen Augen mit den Ärmeln. 36 – 37 – 38. Sollte das vielleicht ein Wink des Schicksals sein? 40 – 41 – 42.
»Reka? Ist der Countdown kor ...« Ein Klopfen unterbrach ihn. Deutlich war es zu hören gewesen. Da noch eins und noch eins. Dann prasselte es, als säße er bei Hagel in einem Auto. Instinktiv zog Peter den Kopf unter die Arme und zog die Beine an.
»Bitte Piloteninterface anlegen ... Bitte Piloteninterface anlegen ... Bitte Piloteninterface anlegen ...«
Es war schrecklich laut. Er hatte das Gefühl, es würde immer lauter. Minute um Minute. Er konnte die Erschütterungen der Aufschläge immer deutlicher spüren. »Oh, Gooooott! Ich will noch nicht sterben!«
Dann gab es einen lauten Knall. Schwarz.
Peter tauchte durch die Weiten einer tiefen, hoffnungslosen Dunkelheit. Er mühte sich, seine Bewegungen zu koordinieren, aber es war, als ob sein Körper gar nicht mit ihm verbunden wäre. Schließlich gab er alle Bewegung auf. Dann mit einem Mal, als ob ihn eine Strömung ergriff, trieb Peter auf etwas zu. Ihm wollte nicht klar werden, was es genau war, aber es war hoch, ja schrill.
Er spürte seine Arme wieder, die er zum Schutz vor das Gesicht hielt. Seine Ohren hatten begonnen zu pfeifen.
»Bitte Piloteninterface anlegen ... Bitte Piloteninterface anlegen ... Bitte Piloteninterface anlegen ...«
Immer noch prasselte es auf die Kapsel ein. Er konnte die Augen nicht öffnen, hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Er wusste nur, dass es unendlich dauerte. Schließlich gleich einem Sommergewitter verebbten die Aufschläge bis nur noch vereinzelt welche zu hören waren. Was zurückblieb, war das Pfeifen in den Ohren und die ewig quäkende Stimme. »Bitte Piloteninterface anlegen ... Bitte Piloteninterface anlegen ... Bitte Piloteninterface anlegen ...«
Langsam hob Peter den Kopf und ließ die Arme sinken. Ein Schütteln des Handgelenks und die Tonbandstimme verstummte. Er schaute sich misstrauisch um, als könnte ihm jeden Moment die Decke auf den Kopf fallen.
»R ... Reka?«
»Ja Peter?«
»Hat die Kapsel irgendwelche Schäden davon getragen?«
»Prüfung initiiert.« Sofort erschien ein Statusbalken auf dem Bildschirm, der bei 0,3% Prozent stand. Die Missionsuhr stand bei 01:58:07. Bald würde es vorbei sein.
Peter begann, sich zu entspannen. Behutsam setzte er die Beine wieder in den Fußraum.
Die Luft war stickig und verbraucht.

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killerbiene75
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Re: Die Kapsel - Entwurf einer Novelle / Kurzgeschichte

Beitrag von killerbiene75 » Mi 27. Nov 2013, 17:40

Hey, ich fand das wirklich sehr gut. Wie geht es weiter?

markoose
Beiträge: 26
Registriert: Di 28. Mai 2013, 17:39

Neuntes Kapitel "Pfeifen"

Beitrag von markoose » Do 28. Nov 2013, 19:42

Der Statusbalken stand seit Minuten auf 56 Prozent, als hätte sich das System aufgehängt. Peter hatte zu schwitzen begonnen, was nicht zuletzt auf die stehende Luft in der Kabine und seinen erhöhten Herzschlag zurückzuführen war. In einem Akt wütender Verzweiflung riss er sich den Overall vom Oberkörper. Das graue T-Shirt darunter war bereits völlig von Schweiß durchdrungen. Seine Füße hingegen waren eiskalt.
Während er eins der Pappschilder aus dem Vorratsfach nahm, die mehr versprachen, als das Fach halten konnte, tippte er ungeduldig auf den Bildschirm. Nichts tat sich. Er zog die Füße an, um sie zu wärmen. Dieser verdammte Minzig. Die Missionsuhr stand schon bei 02:38:54 und von einem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre hatte er nichts mitbekommen. Zwei Stunden, von wegen zwei Stunden.
Das Schild „Jägertopf mit Spätzle“ wedelte in Peters Hand wild durch die Luft, um ihm wenigstens etwas Kühlung zu verschaffen. »Reka, was ist nun? Hat die Kapsel einen Schaden erlitten oder nicht?«
»Schadenskontrollroutine bei 56 Prozent, bitte haben sie noch etwas Geduld.«
Peter war verwirrt. Offensichtlich hatte die Kapsel keinen bedrohlichen Schaden davongetragen, aber irgendetwas war nicht in Ordnung. Oben war es stickig und unten eiskalt. Prüfend senkte er seine Rechte in den Fußraum. Er spürte einen leichten Zug auf dem verschwitzten Rücken seiner Hand.
»Reka, können einzelne Bereiche vor anderen geprüft werden?«
»Ja, Peter.«
»Dann prüfe bitte jetzt die Klimaanlage.«
»Verstanden, unterbreche Routine 576 und prüfe das Belüftungssystem.«
Der Statusbalken flackerte kurz, blieb bei 56 Prozent und ein weiterer Balken erschien. Dieser allerdings bewegte sich weitaus schneller und war bereits nach kurzer Zeit am Anschlag.
»Prüfung des Belüftungssystems abgeschlossen. Es wurde in Folge der einschlagenden Meteroide aus Sicherheitsgründen abgeschaltet. Funktion bei 100 Prozent.«
»Dann schalte es wieder an, Reka. Mir ist heiß.«
»Belüftungssystem aktiviert. Fahre mit Routine 576 fort.« Ein gedämpftes Brummen, das immer mehr an Höhe gewann, bis nur noch das leise Rauschen der Anlage zu hören war, bestätigte Rekas Angabe. Peter atmete gierig die kühle Luft ein, die augenblicklich aus den Lüftungsschlitzen drang. Der Geruch, der mit der künstlich riechenden Luft eindrang, ließ ihn jedoch sofort erschaudern. Es roch nach verschmortem Kunststoff.
»Reka, ich rieche so etwas wie einen Schmorbrand. Kannst du das dann auch überprüfen, wenn die Überprüfung abgeschlossen ist?«
»Schmorbraten ist nicht als Bordgericht verzeichnet. Es gibt ...«
»Nein, ich meinte, es riecht nach einem SCHMORBRAND! Prüfe das bitte.«
»Schmorbrand, verstanden, prüfe die Zusammensetzung der Kabinenluft, sobald Rechenressourcen frei werden.«
Nicht beruhigt, aber froh, etwas getan zu haben, lehnte sich der verschwitzte Astronaut zurück. Peter schloss die Augen und versuchte, zu entspannen. Okay, die Meteoride hast du anscheinend überstanden. Er hörte das monotone Rauschen der Klimaanlage und seinen Atem. Von Zeit zu Zeit drangen Geräusch aus dem Armaturenbrett, die wohl dem Bordcomputer entstammten. Das Pfeifen in den Ohren war mittlerweile zu einem dünnen, hohen Sirren verblast. Peter sog die trockene Luft in großen Zügen ein und spürte, wie sein Kreislauf sich langsam aber sicher beruhigte. »Trinken.«
Sofort senkte sich surrend der Trinkhalm neben seinem Kopf und Peter gönnte sich einen großen Schluck Wasser. Es schmeckte nicht einmal so abgestanden, wie er es in Erinnerung hatte.
Wieder lehnte er sich zurück und wollte gerade behaglich seufzen, als ihm etwas auffiel. Während des Trinkens hatte er den Kopf leicht drehen müssen und das Sirren hatte sich verändert. Wie konnte das sein, wenn das Pfeifen in seinem Kopf war?
Augenblicklich schreckte Peter nach vorn und drehte panisch den Kopf. Das Sirren veränderte sich wieder. Im fuhr es in den Magen. Schließlich beugte er sich mit dem Kopf weit in den Fußraum und das Geräusch wurde lauter. Kaum merklich zwar, aber doch so, dass er sich sicher war. Es kam aus dem Fußraum. Irgendetwas war undicht. Er blickte auf den Bildschirm – 83 Prozent.
Wieder tippte Peter erfolglos auf den Bildschirm, um die Routine zu unterbrechen. »Reka, irgendetwas pfeift hier in der Kabine. Es ist ein Geräusch, das vor der Kollision mit den Meteoriden nicht da war.«
»Schadenskontrollroutine bei 83 Prozent. Zurzeit keine zusätzliche Rechenleistung verfügbar.«
»Unterbrich die Routine jetzt, Reka! Prüfe das Geräusch im Fußraum.«
»Routine unterbrochen. Prüfe Atemluft, Geräuschpegel und Kabinendruck.«
Diesmal erschienen drei weitere Statusbalken, die unterschiedlich schnell wuchsen. Nervös rieb Peter seine verschwitzen Hände an seinen Oberschenkeln ab.
»Geräuschpegel 0,08 Prozent über Normal. Zuordnung Fußraum.« Peter wurde schlecht. Was war es dieses Mal? Die Sekunden zogen sich wie kleine Ewigkeiten. Er hatte einmal etwas über Schwarze Löcher gelesen, in denen alles schier unendlich in die Länge gezogen würde. So musste es sich wohl anfühlen in einem Schwarzen Loch.
»Atemluft innerhalb der normalen Parameter.« Das war zumindest eine gute Nachricht. Peter atmete aus und merkte erst jetzt, wie lange er die Luft angehalten hatte.
»Kabinendruck 3 Prozent unter Normal, weiter fallend. Achtung! Undichte Hülle. Lebenserhaltungssysteme werden beeinträchtigt.«
Sofort erschien eine Piktogrammanweisung auf dem Bildschirm, wie eine Sauerstoffmaske aufzusetzen wäre. Jetzt erinnerte sich Peter auch an den lauten Knall, den er während des Meteoridenschauers gehört hatte.
»Reka, wir wurden offensichtlich schwer getroffen! Wir müssen das Loch finden!«
»Sensormöglichkeiten ausgeschöpft. Ich verfüge über keine weiteren Suchoptionen. Setzte Schadenskontrollroutine fort.«
Peter öffnete seinen Gurt und duckte sich einem Taucher gleich in den Fußraum. Er tastete hektisch die Wände ab. In den Tiefen seines Bewusstseins wunderte er sich, dass der Wackelkontakt des Interface ihm diesmal nicht in die Quere kam. Fahrig betastete er die Oberfläche des Fußraums. Nichts, überall nur Teppich.
Da! Er spürte die Kälte und den Sog an einer Stelle ganz deutlich.
Instinktiv drückte er mit dem rechten Zeigefinger darauf und spürte sofort einen stechenden Schmezr in der Fingerspitze. Rückartig nahm er den Finger wieder weg und nahm ihn in Augenschein. Ein kleiner rötlicher Punkt war dort entstanden, wo die Haut eben noch die kalte Stelle berührt hatte. Widerwillige aber entschlossen suchte er die Stelle wieder und drückte den Finger erneut darauf. Dieses Mal schmerzte es sogar noch mehr. Peter wusste ganz genau, dass er neben Wasser und Wärme Atemluft brauchte, um zu überleben. Er konnte sich hier keine Großzügigkeiten erlauben. Schweiß drang ihm auf dir Stirn und die unnatürliche Körperhaltung begann, äußerst unbequem zu werden.
Er starrte auf seinen Finger, dessen Spitze tiefrot und dessen Rest weiß war. Abdichten. Er musste das Loch irgendwie abdichten.
»Reka, gibt es an Bord einen Reparaturset oder was ähnliches?«
»Ich verfüge über ein Dichtungsgel. Es befindet sich neben den Hygienebeuteln unter dem Sitz.«
Peter versuchte seinen Kopf in Richtung des Sitzes zu drehen, was sich als äußerst schwierig erwies. Er bog seinen Hals bis an die Grenze des Möglichen, sah unter Schmerzen aber nur den linken Rand der Hygienebeutel. Er brachte seinen freien Arm unter den Sitz und nach mehreren Ansätzen spürte er eine kleine Nylontasche. Durch die gebeugte Haltung drückte er sein Zwerchfell ab und die Atmung war sehr schwer. Peter schloss die Augen, atmete noch einmal, so tief es ging, ein und zerrte die Tasche dann in sein Blickfeld. Während er sie mit der linken festhielt, biss er mit den Zähnen auf die Griffplatte des Reißverschlusses und zog die Tasche auf.
Entsetzt starrt er auf den Inhalt, ein Trockenbeutel und ein Zettel mit der Aufschrift „Dichtmasse“.
Peter entfuhr ein unflätiger Ausdruck, worauf Reka sofort antwortete. »Die Hygienebeutel befinden sich unter dem Sitz.«
Peter schrie vor Wut.
»Ja, Peter. Schreien befreit.«
Wild keuchend dachte er fieberhaft nach. Abdichten, abdichten! Die Kaugummis!
Wieder veranlasste er seinen linken Arm zu einer schmerzhaften Verrenkung in Richtung Versorgungsfach, während sein Rechte immer noch auf das Loch drückte und immer stärker schmerzte.
Nach endlosen Augenblicken spürte er die Packung, führte sie zum Mund und riss sie unwirsch auf. Sein Zwerchfell schmerzte nun auch. Peter stopfte sich zwei Kaugummis, die noch halb in der Aluminiumfolie hingen in den Mund und begann trotzig schmatzend zu kauend. Das unangenehme Gefühl des Metalls im Mund mischte sich mit dem künstlichen Zucker. Das Blut lief ihm mittlerweile in den Kopf und er musste des Kauens wegen durch die Nase atmen. Mit einem Mal wurde ihm klar, in welcher Haltung er hier völlig verkrampft saß und mit hochrotem Kopf wild kaute. Ein Teil seines Bewusstseins fand das urkomisch, doch der Lachimpuls verebbte an seinem eingeklemmten Zwerchfell und an einer Mauer aus Wut und Verzweiflung.
Schließlich fingerte er die weich gekaute Masse aus Aluminiumfetzten und Kaugummi aus seinem Mund. Er riss den Zeigefinger von dem unsichtbaren Loch. Dieser begann sofort zu bluten. Peter presste die Masse mit aller Gewalt auf die Stelle, dann deckte er das Ganze mit einem größeren Fetzen der Kaugummipackung ab und ließ los.
Stille. Außer seinem gepressten Atem und der Klimaanlage hörte er nichts mehr. Nur mit größten Mühen richtete Peter seinen Körper wieder auf und ließ sich schwer atmend in den Sessel zurückfallen. Er war schweißnass. Teile seines Körpers begannen unangenehm zu kribbeln, als sie wieder mit Blut versorgt wurden.
Plötzlich fiel etwas von oben herab und baumelt direkt vor seinem Gesicht. Wie zum Hohn schwang ein Pappschild in Form einer Atemschutzmaske mit der Aufschrift „Dummy“ vor seinem Gesicht.
»Kabinendruck 4 Prozent unter Normal, kein Druckverlust.« Peter atmete schwer. Er konnte hören, wie die Klimaanlage mit mehr Leistung fuhr und nur wenig später kam eine weitere Meldung.
»Kabinendruck innerhalb der normalen Parameter.«
Peter war klar, dass Reka nicht darauf programmiert war, einen Kaugummi in ihre Berechnungen mit einzubeziehen. Er konnte nur hoffen, dass dieses Universalhilfsmittel der menschlichen Kultur dichthielt, bis er gerettet wurde. Nachdenklich betrachtete er seinen blutenden Finger und steckte ihn dann in den Mund. Der Geschmack des eigenen Blutes vermengte sich mit den Resten des Kaugummis und den Aluminiumfetzen zu einem Gemisch, dass Peter frösteln ließ. Spontan schossen ihm Bilder von blutverschmierten, metallenen Trümmerteilen durch den Kopf.

markoose
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»Der Referenzrechner« und Kursänderung

Beitrag von markoose » Do 12. Dez 2013, 18:20

16:57 »Der Referenzrechner«
»Schadenskontrollroutine abgeschlossen. Lebenserhaltungssysteme arbeiten einwandfrei. Sauerstoff bei 78 Prozent. Wasser bei 65 Prozent. Energie bei 23 Prozent. Antriebseinheit ohne Schadensmeldung, Status inaktiv. Hülle und Struktur bei 98 Prozent, keine Einschränkung der Stabilität. Zentrale Recheneinheit ohne Schadensmeldung, Status aktiv. Periphergeräte bei 72 Prozent: Optik des Referenzrechners defekt, externe Wartung nötig ...«
»Warte mal, Reka.« Der Bordcomputer verstummte augenblicklich. Bei den Worten externe Wartung hatte er aufgehorcht, und obwohl ihm schon dämmerte, was dies bedeutete, wollte er es genau wissen. »Reka, was bedeutet ‚externe Wartung’?«
»Ich muss mich im Atmosphären-Dock befinden, sodass Techniker auch an meiner Außenhülle arbeiten könne.«
»Was ist das, ein Re ... Referenzrechner?«
»Der Referenzrechner ermittelt die Entfernung zu Bezugspunkten, wie zum Beispiel einem Fixstern. Diese Daten werden benötigt, um meine exakte Position zu bestimmten.«
Peter beschlich ein ungutes Gefühl. »Mach mit dem Schadensbericht weiter.«
»Optik des Referenzrechners defekt, externe Wartung nötig. Exakte Positionsbestimmung nicht möglich. Kollision hatte eine Kursänderung zur Folge. Kursabweichung bei 87 Prozent. Induktionsofen antwortet nicht, interne Revision möglich. Schadensbericht Ende.«
»Moment, Moment. Wir sind nicht mehr auf Kurs?« Peter schaute auf die Missionsuhr – 2:57:37. Schlagartig wurde ihm klar, dass er eigentlich schon gelandet sein und von den Rettungskräften in der allgerischen Wüste gesucht werden müsste. Die Abdichtaktion hatte ihn vollkommen abgelenkt.
Nicht auf Kurs – die verdammten Meteoride hatten ihn tatsächlich vom Kurs abgebracht und jetzt war die Verzögerung, die Minzig nicht erwartet hatte, doch eingetreten. Die blasse Erinnerung an die Worte des Testleiters hallten durch sein Gedächtnis.
Dieser Hintertreppenwissenschaftler hatte vorher kurz etwas über einen Eintrittswinkel gefaselt. Eintrittswinkel, Eintrittswinkel. Wenn er es richtig verstand, dann hing es vom Eintrittswinkel ab, ob die Kapsel verglühte oder nicht.
»Reka, ist der neue Eintrittswinkel zu steil?«
»Nein.«
Peter fiel ein Stein vom Herzen.
»Zurzeit gibt es keinen Eintrittswinkel.« Auch, wenn das unmöglich war, glaubte Peter, einen sarkastischen Unterton in Rekas Stimme zu hören.
»Hei ... Heißt das, wir fliegen nicht in Richtung Erde?«
»Korrekt. Der momentane Kurs führt von der Erde weg. Der erste Himmelskörper, der sich mit meinen Kursdaten deckt, ist der Mond. Geschätzte Ankunftszeit 40,3 Stunden. Hüllenstabilität nach Ankunft unter 1 Prozent. Die mögliche Ungenauigkeit meiner Berechnungen liegt bei 5,7 Prozent, da ich durch den Verlust des Referenzrechners weniger valide Daten habe.«
Peter stockte der Atem. Bilder von berstendem Metall und Mondstaubwolken schossen wieder durch sein Bewusstsein. Er zog die Beine an wippte auf dem Sitz vor und zurück. Das leise Rauschen der Belüftung mischte sich mit seinem Wimmern.

17:13 »Kursänderung«
»Hier Bodenstation, Klein, können sie mich hören?«
Peter starrte ungerührt vor sich hin und wippte. Er hatte jegliches Gefühl für die Zeit verloren.
»Hier Bodenstation, Herr Klein, hallo?«
Peter senkte seinen Blick langsam auf den Bildschirm, wo Minzig zu sehen war.
»Herr Klein, ist alles in Ordnung?«
Die groteske Frage riss Peter wieder zurück in die Realität. »Ja, hier.« Seine Stimme war tonlos. »Alles in Ordnung.«
»Ich habe gute Neuigkeiten.« Minzigs Euphorie verdampfte in Peters Bewusstsein wie ein Tropfen Wasser in der Sahara.
»Herr Klein, wir wissen, dass sie durch die Kollision mit den Meteoriden den Kurs gewechselt haben.«
»Ja, und ich rausche auf den verdammten Mond zu. Was ist daran gut?«
»Sie haben noch genug Energie, um einen Kurswechsel durchzuführen.«
»Ich dachte, Reka hätte über zehn Megawatt Energie. Was ist damit?«
»Nun reaktives Brennmaterial ist teuer. Der Reaktor hat gerade mal soviel, dass es für einen regulären Rückflug reicht. Und der Rest muss in Reserver gehalten werden, um bei der Landung bremsen zu können. Sie verstehen doch, Herr Klein, uns bringt der genaueste Kurswechsel nichts, wenn sie am Ende ungebremst aufschlagen.«
Peter nahm die Beine herunter und lehnte sich nach vorn. »Es sind doch bestimmt Fallschirme eingebaut, oder nicht?«
»Natürlich, Herr Klein. Die sind allerdings nur für die letzte Phase des freien Falls innerhalb der Atmosphäre gedacht. Sie sind da oben aber ein bisschen schneller als im freien Fall. Im Zuge der Zeit sollten wir jetzt wirklich weiter machen.«
»Weitermachen? Wie meinen sie dass? Reka soll den Kurs neu berechnen. Sie klingen so, als wäre da noch etwas.«
»Ja, Herr Klein. Da der Referenzrechner gestört ist, müssen wir einen manuellen Kurswechsel vornehmen.«
»Wir? Wie soll das gehen?«
»Sie werden Reka selbst steuern müssen.«
Peters Gesichtszüge entglitten.
»Keine Sorge, ich sage ihnen alles nötige und Reka wird ihnen dann den genauen Zeitpunkt der einzelnen Aktionen sagen.«
»Das klingt, als wäre das alles ganz einfach. Warum werden dann Astronauten jahrelang ausgebildet und haben zudem noch mehrere Universtitätsabschlüsse?«
»Aber Herr Klein. Das war gestern. Die heutige Astronautenausbildung ist weitaus kürzer, außerdem handelt es sich hier um unser neuestes Produkt. Die Rettungskapsel wurde ja genau für solche Fälle konzipiert.«
»Sie meinen dafür, unausgebildet und gegen seinen Willen in einem Stück Laborschrott durchs All zu fliegen?«
»Ihr Sarkasmus hilft uns jetzt auch nicht weiter, Herr Klein.« Minzig nahm wieder einmal seine Brille ab. »Ich weiß, dass sie unter großem Druck stehen, aber glauben sie mir, gemeinsam können wir das schaffen und sie nach Hause bringen.«
Das Wort ‚gemeinsam’ störte Peter wie der Knorpel in einem Bissen Fleisch, der einfach nicht weicher werden wollte. Ihm war aber klar, dass Minzig Recht hatte. Er musste da durch, ob er wollte oder nicht. »Was ist also zu tun?«
»Das ist die richtige Einstellung, Herr Klein. Bravo. Nun, zuerst müssen sie die manuellen Bedienungselemente aktivieren. Unterhalb des Monitors muss eine kleine Klappe sein. Öffnen sie diese und drücken sie auf den Knopf darunter.«
Peter fuhr mit der Hand an der Kante unterhalb des Monitors entlang. Da war nichts. Erst beim zweiten Mal spürte er die feinen Rillen. Er drückte auf den Deckel, worauf sich dieser mit einem Klicken senkte um dann aufzuspringen. Seine Fingerkuppen schimmerten rot, also musste da wohl etwas leuchten. Er ertastete den Knopf und drückte ihn. Der Bildschirm wechselte seine Anzeige. Minzig wurde auf ein kleines Fenster in der rechten oberen Ecke verbannt, während sich der Hauptbildschirm mit einem Menu füllte. Nach einem kurzen mechanischen Rumoren erschien unterhalb des Armaturenbretts eine Tastatur und ein kleiner Joystick, allerdings blieb beides auf halber Strecke stehen.
Peter rüttelt etwas daran. »Die Tastatur ist hängengeblieben. Ich kann nicht alle Tasten erreichen.«
»Einmal kräftig ziehen. Das ist eine Kinderkrankheit, die wir der Kapsel noch nicht austreiben konnten.« Das Lächeln, das Minzig zeigte, wirkte wie das eines Lausbuben und wollte nicht zu dem sachlichen Wissenschaftler passen.
Nach mehreren gewalttätigen Versuchen löste sich die Tastatur schließlich und kam weiter nach vorne, allerdings hatte sie sich jetzt verkantet und hing etwas schräg vor Peter. Ihm war sofort klar, dass er sie wohl bis zum Ende der Fahrt nicht wieder würde einfahren können. »Also gut, hier ist die Tastatur und der Joystick. Und was jetzt?«
»Als Erstes müssen sie die Koordinaten und Vektoren ihrer Position eingeben. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir zum einen hier unten eine etwa 0,2 Sekunden verzögerte Angabe ihrer Position haben und unsere Rechenergebnisse mit eben dieser Verzögerung zu ihnen nach oben schicken müssen. Dann kommt noch die Verzögerung durch ihre Reaktionszeit und ihre Eingabezeit hinzu. Unterm Strich heißt das, wir müssen ihnen vorausberechnete Daten schicken, damit die Synchronisation auch so genau wie möglich ist.«
»Wie viel Zeit habe ich, um die Daten einzugeben?«
»Je kleiner das Zeitfenster ist, umso genauer ist der Abgleich der Daten, allerdings müssen wir das Zeitfenster vorher festlegen, sonst können wir hier nichts berechnen.«
»Wie lange habe ich Zeit zum Üben?«
»Um ehrlich zu sein, läuft uns die Zeit davon, da das Zeitfenster, in dem eine angemessene Kurskorrektur möglich ist, immer kleiner wird. Wenn wir es verpassen, müssen sie weiter vierundzwanzig Stunden da oben bleiben und sind schon auf dem Weg zum Mond.«
»Sagen sie das doch gleich, verdammt. Lassen sie uns endlich anfangen.«
»Ich setze den Zeitversatz auf 1,5 Sekunden. Rufen sie zuerst das Navigationsmenü auf.«
Peter griff nach dem kleinen Joystick und schoss erst einmal völlig unkoordiniert mit dem Zeiger über den Bildschirm. Bildschirmzeiger, dass wusste er noch aus der Schule, waren in den zwanziger Jahren vom Markt verschwunden. Heutzutage benutzte man nur noch Eye- und Voicecontrol und den Touchscreen. Und selbst der Touchscreen wurde schon nach und nach vom Hologrammcube abgelöst. Der kleine schnelle Zeiger trieb ihm die ersten Schweißperlen auf die Stirn. »Das ist ja schlimmer als den Küchencomputer zu justieren.«
»Herr Klein, beeilen sie sich. Wählen sie als erstes das Vektorfeld an. Ihren Vektor kennen wir und der hat sich ja seit dem Aufschlag nicht geändert.«
Endlich gelang es Peter, das besagte Feld anzusteuern und auszuwählen. Der Kursor blinkte ungeduldig im ersten der vier Felder. »Okay, ich bin soweit, Geschwindigkeit?«
»Ich schicke ihnen die Daten jetzt nach oben.« Sofort waren die Daten über Minzigs Gesicht zusehen. Peter konnte sie kaum entziffern. Er begann zu tippen.
Minzig lehnte sich etwas zur Kamera. »Eingabebestätigung ... jetzt.«
Peter hatte zwar den Zahlenblock auf der Tastatur gleich gefunden, aber wie bestätigte man die Eingabe? »Welche Taste verdammt?«
»Rechte Hand, Enter.« Minzig blieb routiniert.
Endlich fand Peter die Taste und drückte sie nieder. Der Kursor sprang ins nächste Feld. Die Zahlenreihen waren nun deutlich länger. Peter brach der Schweiß aus. Ihm blieb nicht einmal Zeit, seine Eingabe zu kontrollieren.
»Eingabebestätigung der Koordinaten ... jetzt.« Minzig klang beinahe wie ein Roboter aus einem Science-Fiction-Filmen des vorigen Jahrhunderts. Peter bestätigte wieder. Minzig verschwand vom Bildschirm.
»Herr Minzig? Was ist? Haben wir’s geschafft?« Er hörte, wie sich Minzig im Hintergrund mit einer weiteren Person unterhielt, verstand jedoch nichts. Zäh tropften die Sekunden.
Minzig erschien wieder auf dem kleinen Abschnitt des Bildschirms. »So, Herr Klein. Alles in Ordnung. Wählen sie nun den Schubregler des Triebwerkes an.«
Während Peter mit dem ungewohnten Pfeil über den Bildschirm schoss, sprach Minzig weiter.
»Bevor das Triebwerk eine Kursänderung vornehmen kann, muss es die Rotation der Kapsel bremsen und eingeholt werden. Die Schwerkraft wird also für einen Moment ausetzten. Dann müssen sie die Kursänderung aktivieren. Sie verstehen doch, Herr Klein?«
»Triebwerk bremst, wird eingezogen und ich muss einen Knopf drücken.«
»Nein, Herr Klein, sie müssen dann die Kursänderung mit dem Kursor anwählen und bestätigen.«
»Okay.« Peter lief der Schweiß in Strömen über sein Gesicht und tropfte ihm vom Kinn.
»Rotationsbremsung einleiten in ... drei ... zwei ... eins ... jetzt.«
Peter hatte gerade noch die Bestätigungstaste erwischt. Ein leichtes Vibrieren war zu spüren, dann hörte man einen Motor. Ein sonderbares Gefühl durchströmte ihn. Er hatte sich nur ein bisschen bewegt und schon löste er sich vom Sitz. Der Gurt hing ungenutz an den Seiten. Peter schwebte in der kleinen Kabine und blieb sogleich mit den Knien an der Nottastatur hängen. Ein hohes surrendes Geräusch verriet, dass das Triebwerk eingeholt wurde.
»Kursänderung aktivieren in zwei ...«
Peter hatte sich für einen kurzen Moment von der Schwerelosigkeit ablenken lassen. Seine nun folgende hektische Bewegung endete damit, dass er sich den Kopf heftig an der Decke stieß.
»... eins ...«
Der Schmerz durchzuckte seine Schädeldecke. Verdammt, wo war oben, wo war unten? Wo war die Eingabetaste?
»... jetzt!« Minzig klang wie ein Feldwebel.
Peter schwebte direkte unter der Kabinendecke und sein Arm reichte nicht ganz zur Tastatur. Er drückte den Kopf in den Nacken und stieß sich so von der Decke ab. Sein ausgestreckter linker Zeigefinger schoss in Richtung Tastatur. Die Rechte griff nach dem Joystick. Er wählte das Feld an und drückte die Taste herunter.
Der plötzliche Schub drückte Peter seitlich auf die Armlehne seines Sitzes und klemmte dabei seine linke Hand ein. Der Schmerz stach bis in die Schulter. Peter zwang sich, die Augen offen zu halten und verfolgte die zitternden Zahlen auf dem Bildschirm. Momente zogen sich wie Kaugummi.
Dann plärrte die unliebsame Tonbandstimme durch die Kabine. »Bremsmanöver eingeleitet.« Dieses Mal wurde Peter in die obere rechte Seite der Kapsel gedrückt und stieß sich den Kopf dabei erneut, als er den Wasserspender streifte. Die Nerven der aufgeschürften Haut brüllten durch sein Bewusstsein. Nach weiteren zähen Momenten des Schmerzes blieben die Zahlen dann stehen. Wieder begann Peter durch die Kabine zu schweben, durch die Schmerzen konnte er der Schwerelosigkeit allerdings nichts abgewinnen.
»Schwerkraftschleuder initiiert.« Ein weiteres Mal hatte die blecherne Frauenstimme Unheil verkündet.
Peter fiel an die hintere Wand, so dass ihm die Kopfstütze in den Rücken donnerte. Als die Rotationsgeschwindigkeit mehr und mehr zunahm, sank dem Sitz entgegen. Am Ende hing er schwer atmend und schweißüberströmt in seinem Sitz. Dann schwanden ihm die Sinne.

***

Peter erwachte und hielt sich sofort Kopf und Hand. Benommen sah er sich um. »Reka, wie ist der Kurs?«
»Neuer Kurs wird geprüft.«
Während sich Peter nach und nach sammelte, betrachtete er zweifelnd seinen linken Arm. Der bereitete ihm vor allem im Schulterbereich bei entsprechnder Bewegung starke Schmerzen. Was ihn aber am meisten ärgerte, war die Tatsache, dass das Piloteninterface trotz Wackelkontakt die gesamte Aktion über einwandfrei funktioniert hatte.
»Kurs geprüft. Der momentane Kurs führt in Richtung Erdtrabant. Der erste Himmelskörper, der sich mit meinen Kursdaten deckt, ist der Mond. Geschätzte Ankunftszeit 39,1 Stunden. Hüllenstabilität nach Ankunft bei 71 Prozent. Die mögliche Ungenauigkeit meiner Berechnungen liegt bei 6,9 Prozent, da ich durch den Verlust des Referenzrechners weniger valide Daten habe.«
Peter stutzte. Er war immernoch auf dem Weg zum Mond. »Reka, bist du dir sicher, dass das nicht der alte Kurs war.«
Wieder verstrichen einigen Sekunden, in denen nur die Lüftung zu hören war. »Neuer Kurs wurde aufgrund der vorhandenen Daten korrekt berechnet.«
Hektisch schossen Peters Augen von links nach rechts und wieder zurück. »Nein, nein, NEIN! Du musst dich irren. Ich habe doch den Kurs geändert! Es muss sich etwas verändert haben!«
»Ja, Peter, die Ankunfszeit, die Hüllenstabilität und die Ungenauigkeit meiner Rechnung.«
»Moment, Hüllenstabilität?« Wieder schossen Peter Bilder von Mondstaub, Metall und gefrorenem Blut durch den Kopf.
»Die voraussichtliche Hüllenstabilität zum Rendezvouszeitpunkt liegt jetzt bei 71 Prozent. Beim alten Kurs lag sie noch unter einem Prozent.«
Peter riss Mund und Augen auf. Er würde auf dem Mond landen oder besser bruchlanden. Wie hätte er auch als unausgebildeter Astronaut die Kursänderung richtig vornehmen sollen? Dieser Minzig war ein Schwätzer. Doch Peter war noch am Leben.
Er hatte schon oft von der Mondbasis gehört. 2051 hatte man begonnen, sie zu bauen. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sie eine Rumpfmannschaft von 70 Personen und ständig waren mehrere Teams von Wissenschaftlern zu Gast, so dass dort oben fast hundert Menschen lebten. Doch der Mond war nicht eben klein. Was, wenn er zu weit von der Basis landete?
»Minzig, hören sie mich. Minzig? Hallo?«
Der Bildschirm zeigte weiterhin nur das Steuermenü. Von Minzig war weder etwas zu sehen noch zu hören.
Peter versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Die Kapsel war anscheinend dicht. Er hatte noch genug Luft, Wasser und Energie. Das mit dem Essen konnte knapp werden. Und er, Peter Klein, war verdammt nochmal auf dem Weg zum Mond. Seine Verzweiflung war groß und der Schmerz, der in seiner Schulter pochte, ließ sie noch wachsen.
»Reka, kannst du mich untersuchen?«
»Ja, mir stehen verschiedene medizinische Standardmessinstrumente zur Verfügung.«
»Ich glaube, ich habe mich an der Schulter verletzt.«
»Deine Angaben decken sich mit deiner Wärmesignatur in diesem Bereich. Außerdem ist dein Puls erhöht und die Leitfähigkeit deiner Haut deutet auf Stress hin. Ist dein Arm nur eingeschränkt bewegungsfähig?«
»Ja.« Peter begann langsam, seinen verletzten Arm zu bewegen.
»Bitte bewege ihn in jede Richtung so weit wie möglich.«
Peter tat, wie ihm geheißen und schon nach kurzer Zeit stellt Reka die Diagnose. »Es handelt sich nach meinen Daten um eine mittelstarkes Muskelhämatom zwischen Schulterdach und Humeruskopf.«
Einmal mehr verzog Peter frustriert sein Gesicht. Er ließ sich lustlos in den Sessel fallen und wollte ein Bein anziehen, als er sich sogleich das Knie an der immernoch verklemmten Tastatur stieß. Fluchend schlug er dagegen, nur um einen Augenblick später kreideweiß auf den Bildschirm zu starren. Ein Fenster hatte sich geöffnet und es bot die Option, abzubrechen oder zu bestätigen. In dem Fenster stand ‚Alle Systeme herunterfahren.’
Konzentriert und vorsichtig betätigte Peter die Pfeiltasten, bis ‚Abrechen’ markiert war und bestätigte dann. Erleichtert sah er, dass sich das Fenster ohne Weiteres schloss. Er besah sich die verkeilte Tastatur und rüttelte prüfend daran. So klapprig, wie sie war, so kantig und so verklemmt war sie auch. Er sah keine Möglichkeit, sie wieder einzufahren, ohne Gewalt anzuwenden. Das schien ihm im Augenblick zu riskant. Genervt arangierte er seine Beine unter der Tastatur und versuchte sich zu entspannen.
»Reka, Musik.«
Fast augenblicklich ertönten Gitarrenakkorde und Johnny Cash begann mit den Worten ‚Come on, bad news’, was Peter ein kleines Lächeln abrang. Wenn nicht der Inhalt, so passte wenigstens der Titel und die Stimmung ganz gut zu seiner Lage. Er hatte seit heute morgen nicht mehr geraucht und wünschte sich jetzt sehlichst eine Zigarette.
Es funktionierte allerdings auch ohne sie. Peter beruhigte sich und ließ sich seine Lage durch den Kopf gehen. Vielleicht konnte er den Kurs noch etwas verändern, um die Chance, heil auf dem Mond zu landen, noch zu verbessern. Die Musik wurde ausgeblendet.
»Peter, soll ich sie behandeln?«
Die Alt-Stimme Rekas hatte ihn schnell wieder aus seinen Gedanken gerissen.
»Meine Messungen ergeben bei der Anwendung einer Nemec-Spezialtherapie eine Prognose einer 96 prozentigen Chance auf Heilung. Soll ich die Behandlung einleiten?«
Peter war dem Gedanken einer Heilung nicht abgeneigt und doch machten ihn die Fachbegriffe skeptisch. »Was ist eine Nemec-Spezialtherapie?«
»Die Nemec-Spezialtherapie ist eine Unterform der herkömmlichen Nemec-Therapie benannt nach dem österreichischen Physiker Hans Nemec. Die weiterentwickelte Form der Interferenzstromtherapie arbeit auf Basis ...«
»Schon gut, Reka, ich glaub’s dir. Du kannst anfangen. Was soll ich tun?«
»Lehnen sie sich zurück, trinken sie noch einen Schluck Wasser und entspannen sie sich. Während der Behandlung werden sie etwas schläfrig werden. Ich bin mit entsprechenden integrierten Strahlern ausgestattet und kann die Therapie unverzüglich starten.«
Peter lehnte sich zurück und wollte gerade etwas trinken, als er Bedenken hatte. »Wie lange wird das dauern?«
»Ich werde sie in Intervallen von einer Stunde je fünfzehn Minuten behandeln, dann sollte die Prellung in weniger als vierundzwanzig Stunden abgeklungen sein.«
»Also gut.« Peter entspannte sich und nahm einen Schluck Wasser. Das Licht wurde schwächer und mit den ersten Akkorden eines weiteren Songs von Johnny Cash begann es in seiner Schulter zu kribbeln - I can see a darkness. Peter wurde tatsächlich etwas träge und seine Gedanken begannen sich in der großen schwarzen Leere, von der er nur wenige Zentimeter getrennt war, zu verlieren.

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»Nochmal Püree«

Beitrag von markoose » Do 26. Dez 2013, 12:09

Etwas flog auf und ab, hin und her, nach links, dann wieder nach rechts. Er öffnete sein zweites Auge und ihm wurde wieder klar, wo er sich befand. Im All.
»Reka. Verdammt ... ich muss eingeschlafen sein.« Peter hatte gesprochen als hätte er eine Wolldecke im Mund und rieb sich jetzt die schweren Augen. Er lag bequem seitlich in den Sessel gelehnt da und atmete träge. Die Kabienenbeleuchtung war immernoch heruntergedimmt und auf dem Bildschirm flog das Logo des Raumfahrtzentrums wie eine betäubter Gummiball langsam hin und her.
»Die Therapie ist zu 75 Prozent abgeschlossen. Der vierte Durchgang beginnt in elf Minuten.«
Aus dem dumpfen Bewusstsein heraus, etwas Wichtiges verpasst zu haben, schreckte Peter nach vorn. Ungebremst schoss ihm der Schmerz in die Schulter, verteilte sich über den Rücken und trieb ihm einen Anflug von kaltem Schweiß auf die Stirn. Er fluchte inbrünstig während der Schmerz sich mit einem häßlichen Echo entfernte. Von dem Erfolg der Therapie war nichts zu spüren.
»Fluchen befreit, Peter.«
»Wie viel Zeit ist vergangen, seit du mit der ersten Therapie angefangen hast?«
»Jetzt sind es 3:35 h.«
Ungläubig starrte Peter auf den Bildschirm und die Ziffern der Missionsuhr. Es gelang ihm erst nach einiger Anstrengung, sie klar zu sehen. Der Mond kam ihm wieder in den Sinn und sein möglicher Aufprall.
»Wie viel Zeit noch bis zum Aufschlag auf den Mond?«
»Noch 36 Stunden und 25 Minuten.«
Peter lief es kalt über Rücken.
»Hier Minzig, hallo Herr Klein. Na wieder wach?«
»Warum haben sie mich nicht geweckt? Sie hätten mir ruhig sagen können, dass die Schwerkraft bei der Kursänderung aussetzt. Ich habe mir die Schulter gestoßen, außerdem bin ich immernoch auf Mondkurs. Verdammt noch mal, ich ...« Peter redete sich in Rage, während Minzig ihm auf dem Bildschirm ungrührt zusah.
»Immer langsam, Herr Klein. Zum einen haben sie ja unterschrieben, dass sie alle Unterlagen genauestens studiert haben. Da stand unter anderem auch drin, dass bei Kurswechseln Schwerkraftausfälle unabdingbar sind. Geweckt habe ich sie nicht, weil wir sie da oben möglichst fit brauchen und eine Mondlandung wohl nicht mehr zu ändern ist. Herr Klein, sie werden auf dem Mond landen.« Minzig bemerkte, wie Kleins Ärger wieder in Fassungslosigkeit und Angst umschlug. Für Peter war es etwas anderes, von einem Computer über eine mögliche Mondlandung zuhören, als von einem Menschen bestätigt zu bekommen, dass dies die einzige Möglichkeit und somit Tatsache war.
»Herr Klein. Immer mit der Ruhe. Wir haben bereits mit Shakleton gesprochen und, wenn alle Daten stimmen, landen sie ganz in der Nähe des Kraters Malapert. Dort befindet sich eine Relaisstation für die Hauptbasis. Sie ist mit zweiundzwanzig Mann besetzt und hat auch zwei Mondfahrzeuge, mit denen sie dann gerettet werden können. Die Notfallfrequenz ihrer Kapsel wurde bereits an das Bergungsteam weitergegeben.«
Klein wurde weiß und Minzig lächelte, als hätte er einem Fünfjährigen einen Lollie versprochen. Nach einem seltsam unwirklichen Moment fuhr Minzig fort. »Bei unserer Fehlersuche haben wir bei der Kapsel einen Druckabfall ausgelesen. Sie hatten ein Leck und haben es gestopft, richtig?«
Peter wusste nicht recht, was gerade jetzt mit dieser Fragen anfangen sollte. »Ja ...«
»Respekt, mein Lieber. Das war eine beachtliche Leistung.« Minzig beugte sich am Monitor vorbei und schien die Unterhaltung beenden zu wollen, drehte sich aber dann noch einmal zum Monitor. »Eine Sache wäre da noch. Uns ist es von hier unten nicht möglich, das defekte Hygieneinterface zu ersetzen. Das hat allerdings zur Folge, dass ihre Wasservorräte schneller zur Neige gehen, als geplant. Machen sie sich deswegen aber keine Sorgen. Sie landen ja bald auf dem Mond.« Minzig machte eine Pause und sah Peter ernst an. »Herr Klein, ich denke, sie brauchen jetzt erst einmal etwas Raum für sich, um die Dinge zu sortieren.« Er schaute kurz prüfend auf eine Uhr außerhalb des Blickfelds. »Wir haben ja noch über 36 Stunden. Minzig Ende.«
Bald klang ganz ähnlich wie keine weitere Verzögerung. Hatte Minzig nicht schon einmal bald gesagt? Peter starrte noch eine ganze Weile auf den Bildschirm, auf dem sich wieder das Firmenlogo hin und her bewegte. Seine Gedanken schwebten zwischen Kindheitserinnerungen und verschiedenen Bildern der Mondlandungen der dreißiger und vierziger Jahre. Er war jetzt völlig ruhig, was der Tatsache geschuldet war, dass sich die in ihm wachsenden Angst noch nicht recht gegen die bereits vorhandene Mutlosigkeit durchsetzen konnte. Apathisch nahm er das Knurren seines Magens zur Kenntnis, schlug kurz mit den Augenlidern und sein Blick wurde wieder klarer.
Zu essen schien ihm im Augenblick die beste Idee. Umständlich wühlte er im Versorgungsfach herum, bis er die zweite und auch letzte Packung Kartoffelpüree herausgefischt hatte.
Mit den Erfahrungen des letzten Essens gelang es Peter recht schnell, das Wasser in den Beutel zu befördern und den Induktionsofen zu aktivieren. Die Vorfreude auf das Essen wurde nur ein wenig von der verkanteten Tastatur gedämpft, die ihm immernoch die Bewegungsfreiheit einschränkte.
Der Ofen summte wieder und das leise ‚Ping’ ließ ihm dieses Mal tatsächlich das Wasser im Mund zusammenlaufen. Peter war es gelungen, die Tastensperre für das Keyboard zu aktivieren und so hatte er selbige mit etwas Pappe aus dem Versorgungsfach abgedeckt und zu einem passablen Klapptisch umfunktioniert.
Mit spitzen Fingern zog er den dampfenden Beutel aus dem Ofen. Als er die erste Gabel in den Mund steckte, verbreitete sich der deftige Geschmack schlagartig in seiner Mundhöhle und Peter entfuhr ein leises Summen. Er schloss die Augen.
Zu dem entspannenden Rauschen der Klimaanlage gesellte sich ein sonderbarers Knistern. Es erinnerte Peter an Fett in einer Pfanne oder Mikrowellenpopcorn. Er genoss dass mittelmäßige Püree, das dieses Mal wenigstens fertig zubereitet war. Zwiebelsoße und sämiger Kartoffelbrei vermengte sich in seinem Mund zu einer angenehmen Mischung. Er dachte an das letzte Mal, als er Popcorn gegessen hatte. Es musste ein Kinobesuch gewesen sein. Der Film wollte ihm nicht mehr einfallen. Er war mit viel Action, Explosionen und Feuer.
Peter stockte im Kauen, dann riss er die Augen auf. Instinktiv starrte er auf den Induktionsofen und nahm den intensiven Geruch von verschmortem Kunststoff wahr. Ein dünner Rauchfaden stieg aus der noch halb geöffneten Klappe auf. Es flackerte und mit einem Mal schlug eine gelbblaue Flamme oberhalb des Ofens aus dem Armaturenbrett.
Noch ehe der Raumfahrer wider Willen etwas tun konnte, war die Frauenstimme vom Band zu hören. »Achtung, Bordbrand! Lebensgefahr! Halten sie sich von den Flammen fern! Löschmaßnahmen werden eingeleitet! Schließen sie die Augen und halten sie den Atem an! Schließen sie die Augen und halten sie den Atem an! Drei – zwei – eins!«
Die Gabel immernoch in der Rechten kniff Peter die Augen zusammen, der Atem war ihm schon vorher gestockt. Er konnte für einen kurzen Moment eine gigantische Rasierschaumdose hören, dann herrschte dumpfe Stille. Sein Haut wurde kühl. Zögerlich öffnete er ein Auge, sah jedoch nur einen milchig weißen Schimmer.
Wieder sprach die Frau vom Band, doch sie klang sehr dumpf. »Löschschaum wird in zwanzig Sekunden zerfallen. Noch nicht atmen. neunzehn – achtzehn – siebzehn ...«
Obwohl Peter mit dieser Bandstimme nur schlechte Erinnerungen verband, hielt er sich doch an ihre Anweisungen. Da er durch die Überraschung und den vollen Mund aber keine Möglichkeit zum Luftholfen gehabt hatte, sehnte er das Ende des Countdowns herbei.
» ... vier – drei – zwei – eins. Sie können jetzt die Augen wieder öffnen und atmen. Notfallroutine beendet.«
Peter öffnete die Augen und sah sich um. Der gesamte Innenraum war mit einer dünnen weißmetallischen Schicht überzoge. Auf der noch dampfenden Kartoffelpüreetüte und seiner Gabel sah er die letzten Reste eines glitzernden Schaumes in sich zusammenfallen. Wie zum Hohn roch es nach alter Seife, Schmorbrand und Zwiebeln.
Er hatte die Situation noch nicht recht erfasst, als sich Reka meldete. »Sauerstoffgehalt in der Kabine unter einem Prozent.« Ein Zischen verriet, dass neuer Sauerstoff eingeleitet wurde. »Meine Sensoren melden, dass sie den Brand unverletzt überstanden haben. Die Fehlersuchroutine läuft bereits. Es handelte sich mit einer vierunddreißigprozentigen Wahrscheinlichkeit um einen Kabelbrand, der durch einen Defekt im Induktionsofen ausgelöst wurde. Der Ofen ist nicht mehr funktionsfähig. Eine Reparatur kann nur von Fachpersonal durchgeführt werden. Durch den Brand und die damit verbundenen Maßnahmen ist der Sauerstoffvorrat weiter gesunken. Genaue Werte foglen noch.«
Peter starrte regungslos auf seine glitzernde Gabel.
»Aufgrund der aktuen Krisensituation und der Werte ihrer Körperfunktionen errechne ich eine neunundachtzigprozentige Wahrscheinlichkeit eines psychischen Schocks. Ich aktiviere das Seelsorgeprogramm.«

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»Seelsorge«

Beitrag von markoose » Sa 11. Jan 2014, 21:41

Reka sprach in gleichmäßigem Ton weiter. »Atmen sie tief ein. Es wird alles gut. Hören sie auf das Rauschen der Wellen und schließen sie die Augen.« Entgegen Rekas Äußerung war aber kein Meeresrauschen zu hören. Statt dessen sang Johnny Cash Peace in the valley.
Peter war zu müde, um sich von dem seltsamen Kanon aus Cashs Gesang und Rekas Anweisungen irritieren zu lassen.
»Lehnen sie sich zurück und entspannen sie. Lassen sie los. Ja, lassen sie ihren Gefühlen freien Lauf. Weinen reinigt die Seele. …« Rekas Stimme war weich und gütig. Für einen Moment meinte Peter einen weiblichen Geruch, eine Mischung aus Parfüm und Handcreme, wahrzunehmen, dann war der Eindruck schon wieder verflogen. Seit er in den Tunnel gesprungen war, waren gerade mal acht Stunden vergangen und Peter hatte das Gefühl, bereits drei Tage lang geweint zu haben. Er fühlte sich ausgetrocknet und leer, als wäre keine Träne in ihm übrig. Das letzte Mal hatte er sich so gefühlt, als ihm Christiane die Scheidungspapiere geschickt hatte.
»… jeder Schrecken hat auch sein Gutes. Ich bin bei Ihnen. Sie sind nicht allein.« Reka machte eine kurze Pause und Johnny sang ‚And I will be changed from this creature that I am’. »Peter, wenn dir ... Ich darf doch Du sagen? ... Wenn dir also zum Reden zumute ist, dann erzähl’s mir, wirf all deine Sorgen auf mich.«
Johnnys Backroundchor füllte die Pause mit There'll be no sadness, no sorrow, no trouble I see und die gesamte Kapsel mit Mitgefühl. Peter war es, als wolle tatsächlich etwas aus ihm heraus, doch er hatte nicht den leisesten Schimmer, was das war oder wie er es hätte artikulieren können. Ihn befiel nur ein tiefverwurzeltes Gefühl der Schwere. Seine Augen brannten und als der alte Countrysänger zum Ende seines Liedes kam und ‚for me’ sang, hätte Peter am liebsten einfach alles losgelassen und seinen Geist aufgegeben.
»Schadenskontrollroutine abgeschlossen.« Reka hatte schlagartig wieder ihren professionellen Ton. »Lebenserhaltungssysteme arbeiten einwandfrei. Sauerstoffvorrat bei sechsunddreißig Prozent. Wasservorrat bei dreiundvierzig Prozent. Energiereserven bei 32 Prozent. Antriebseinheit ohne Schadensmeldung, Status inaktiv. Hülle und Struktur bei 98 Prozent, keine Einschränkung der Stabilität. Zentrale Recheneinheit ohne Schadensmeldung, Status aktiv. Periphergeräte bei 61 Prozent: Optik des Referenzrechners defekt, externe Wartung nötig, Induktionsofen defekt, externe Wartung nötig, Löschschaum bei 45 Prozent, noch eine Brandbekämpfung möglich ...«
Peter hatte die Daten in einer sonderbaren Zweiteilung gehört. Er saß völlig regungslos und entspannt in seinem Sitz und bewegte nichts. Seine Geist schien auf einem riesigen Wattepolster zu liegen. Nur ein winziger Teil seines Bewusstseins nahm die Informationen des Bordcomputers auf und versuchte einen Sinn darin zu finden.
Rekas Stimme war nun wieder weicher. »Versuch zu schlafen Peter. Schlafen lässt die Seele fliegen.«
Peter presste die Lider aufeinander. Seine Augen brannten und tränten. Er würde jetzt nicht schlafen können, doch ihm war klar, dass er sich irgendwie beschäftigen musste, um nicht durchzudrehen. Für einen weiteren Kursänderungsversuch hatte er im Augenblick nicht die Nerven. Schließlich fasste er einen Entschluss.
»Reka!«
»Ja, Peter?«
»Mehr Licht.« Augenblicklich wurde das Licht in der Kapsel heller. Ironischer Weise kam Peter ausgerechnete jetzt in den Sinn, dass das angeblich einmal Goethes letzte Worte gewesen waren. Der Tod war ganz in der Nähe.
Leise sprach er vor sich hin. »Der Vorteil einer guten Allgemeinbildung.« Dann begann er, sein Zwangsrefugium systematisch zu durchsuchen. So verging die Zeit und er fand vielleicht etwas, dass ihm weiterhalf.

markoose
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»Ablenkung«

Beitrag von markoose » Mi 22. Jan 2014, 18:48

Links neben seinem Kopf entdeckte er eine kleine Klappe. Nach einigem Probieren und schmerzenden Fingerkuppen stellt sich die Klappe als die Abdeckung für einen Sicherungskasten heraus. Doch selbst, wenn er etwas hätte ausschalten wollen, wäre er mit den Beschriftungen in Fachchinesisch nicht weitergekommen. Bezeichnungen wie 47B oder ein schlichtes X wechselt sich mit kleinen unbekannten Logos und bloßen Zahlen ab.
Neben der Entdeckung einiger gut versteckter Lüftungsschlitze und Lautsprecher fand er an seinen Sessellehnen jeweils einen kleinen roten Riegel. Als er einen davon betätigte, öffnete sich eine Klappe und eine gelb schwarze Schlaufe sprang heraus. So etwas hatte er einmal in einem alten Spielfilm über Jagdflieger gesehen. Wie im Film diente dieser Auslöser offensichtlich auch zum Absprengen des Daches und zur Auslösung des Schleudersitzes. Das verriet ein kleines gelbes Schild mit schwarzer Schrift.

‚Achtung, Schleudersitz! Nur im Notfall ziehen!’

Peter saß leicht verkrampft seitlich auf seinem Sitz und sah schwer atmend auf die gestreifte Schlaufe und das kleine Schild. Er verspürte eine sonderbare Anziehung, die von ihr ausging. Es war ja ein Notfall. Ziehen und weg. Zugegebenermaßen wusste Peter nicht einmal genau, ob man nun erfrieren, ersticken, verdampfen oder an der hohen Strahlung sterben würde. Er konnte sich ohnehin nicht vorstellen, dass es lange dauerte. Es wäre so einfach und niemand würde es kümmern.
Als das Atmen durch die Körperverdrehung zu schwer wurde, riss er sich von diesen Gedanken los, verstaute die Schlaufe wieder in ihrem Fach und drehte sich langsam zurück. Seine verletzte Schulter meldete sich sofort und er sah Sterne, allerdings innerhalb der Kapsel.
Als der Schmerz endlich nachließ, wollte er sich die Utensilien unter dem Sitz noch einmal näher anschauen. Nach einer weiteren unbequemen Angelei hielt er einige eingeschweißte Gegenstände in Händen.
Unter ihnen befand sich ein solides Stück der schweizer Waffenindustrie, eine Verbandstasche und hochgeistiges Luxusgut aus Sachsen. Die Tasche, das rote Offiziersmesser wie auch den Schnaps Aecht Bockauer Edeleberesche legte er ins Versorgungsfach, um später nicht wieder suchen zu müssen. Den Rest stopfte er achtlos wieder unter den Sitz.
Mittlerweile kam ihm die Kapsel wie eine Zelle vor, aber die Untersuchung selbiger hatte ihm immerhin eine Möglichkeit beschert, seinem lebenserhaltenden Gefängnis zu entfliehen und den Schnaps würde er vielleicht auch noch brauchen.
Peter besah sich den Finger, mit dem er vorher das Loch abgedichtet hatte. Es war nur eine kleine Verletzung, doch sie hatte schon einen großen roten Hof. Auch geschwollen war der Finger ein bisschen. Er drückte prüfend daran herum, nur um festzustellen, dass die Verletzung sehr druckempfindlich und schmerzhaft war und auch etwas nässte. Hoffentlich hatten die da auf dem Mond einen vernünftigen Arzt und ein Direktshuttle zur Erde. Er fluchte noch eine Weile halblaut über Minzig und sein Team von Dilettanten und durchstöberte dann noch einmal die Bordvideothek. Es blieb allerdings dabei, außer Darkstar war nichts zu finden.
»Reka?«
»Ja, Peter?«
»Irgendetwas stimmt nicht mit der Bordvideothek. Ich kann nur einen einzigen Film entdecken.«
»Ich prüfe meine Verzeichnisse. Einen Moment.«
Schon nach wenigen Augenblicken meldete sich Reka zurück. »Nach meinen Daten sind 1568 Filmdateien hinterlegt. Welchen Film möchtest du denn schauen?«
Ein Action- oder Katastrophenfilm kam für Peter nicht in Frage. »Irgend so ein Liebesfilm ... ah, ja, genau ... Hast du Casablanca?«
»Casablanca, USA, 1942, mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann. Film wird aktiviert.«
Diesen Klassiker hatte er sich schon sehr oft angesehen. Manchmal half es, sich im Schmerz zu suhlen. Einigermaßen zufrieden lehnte Peter sich zurück. »Trinken.«
Surrend fuhr das Trinkrohr neben seinen Mund und er nahm einige große Schlucke, während er auf den Bildschirm blickte. Das Mundstück schmeckte etwas nach Seife, doch das war nach wenigen Schlucken verschwunden.
Diese Abwechslung würde ihm bestimmt mehr bringen, als das Seelsorgeprogramm. Der Bildschirm wurde dunkel und nach dem Logo des Raumfahrtzentrums erschien unter der mit Löschschaumresten verschmierten Scheibe ein rotes Viereck auf dem Bildschirm. Peter dachte zuerst an ein weiteres Logo irgendeines Filmverleihs, doch die Frauenstimme, die große Ähnlichkeit mit der Tonbandstimme hier an Bord hatte, ließ keinen Zweifel daran. Es waren die ersten Bilder des Filmes Darkstar.

»Achtung, Achtung! Erhalte Nachricht. Von Erdbasis ...«

»Film anhalten! Reka! Das ist Darkstar und nicht Casablanca. Willst du mich verarschen?«
»Ja, Peter. Fluchen hilft, das ist ein gutes Ventil. Ich überprüfe meine Dateien.«
Peter brodelte vor Wut und starrte auf den Bildschirm. Der Soldat in schwarz-weiß, der mitten im Worten innehielt, ließ ihn an Minzig denken.
»So viel zur Zerstreuung und Ablenkung.«
»Die Wahrscheinlichkeit einer Ablenkungen der Kapsel liegt lediglich bei 0,04 Prozent. Es besteht kein akuter Handlungsbedarf.«
Peter verdrehte die Augen.
»Ich habe meine Filmdateien überprüft. Bei allen 1568 Dateien handelt es sich um den gleichen Film. Eine weitere Auswahl ist nicht möglich.«
Peter Klein saß in seiner Kapsel. Das speziell entwickelte Bordprogramm war nicht in der Lage, mehr als einen Film abzuspielen. Von seiner Heimat trennten ihn 25 Zentimeter Luft, 30 Millimeter Spezialglas, 45 Millimeter Titan-Carbon-Verbund und etwa 337.260 km. Sein Schrei überwand lediglich die 25 Zentimeter Luft und die 30 Millimeter Spezialglas. Allerdings auch die hochsensiblen Mikrofone Rekas.
»Ja, Peter. Lass alles heraus. Schreien befreit.«

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»Feuchte Träume«

Beitrag von markoose » Sa 1. Feb 2014, 21:50

Peter blieb nichts anderes übrig, als zu versuchen, weitere Kräfte zu sammeln.
»Reka, fahr das Licht runter und die Heizung etwas hoch. Ich versuche, zu schlafen.«
»Ja, Peter. Gute Nacht.« Die Beleuchtung wurde gedimmt und der unablässige Luftstrom der Klimaanlage wurde wärmer.
Hunger und Frustration setzten Peter zu. Während er seine Lider kaum geschlossen halten konnte, kam ihm wieder „Peterchens Mondfahrt“ in den Sinn. Hatte sein Patenonkel das alles vorausgesehen? Der Gedanke erschien ihm genauso lächerlich wie beängstigend. Schließlich wollte Peter in seiner Verzweiflung beten, doch es wollten sich keine Worte finden.
Wieder musste er an das Kinderbuch denken. Die Kinder sprachen ihr Abendgebet und die Mutter sang im Anschluss die Maikäferballade. Das Liedchen hatte ihn damals lange nicht losgelassen, doch er erinnerte sich nur noch an Bruchstücke - Als der dunkle Abend kam, Summ – Summ – Summ – Käferlein sein Ränzel nahm, Summ – Summ – Summ – Wollt’ auf große Reise gehen ... Dann ließ ihn seine Erinnerung im Stich. Er bekam einen Kloß im Hals und ihm brannten die Augen, als wollten die Tränen aus ihm herausbrechen, doch es blieb bei einem trockenen Brennen.
Schließlich fiel Peter doch in einen ruhelosen Schlaf. Er träumte von Mondkälbern, metallischem Kartoffelpüree und Minzig als Mondmann mit einer mächtigen Axt. Irgendwann wurde es furchtbar heiß. Die Sonne wuchs und wuchs und war kurz davor, denn gesamten Mond zu verschlingen. Als Peter erwachte, klebte ihm die Zunge am Gaumen und seine Nasenschleimhäute waren zugeschwollen. Sein erster Versuch, Reka anzusprechen, endete in einem unartikulierten Gegurgel. Nach einigem trockenen Schlucken gelang ihm schließlich das Sprechen.
»Reka, warum ist es hier so heiß?«
»Klimaparameter innerhalb der normalen Bereiche. Meine Sensoren zeigen aber einen Erhöhung der Raumtemperatur um elf Grad. Ich leite sofort eine Prüfroutine ein.«
»Trinken.« Hastig trank Peter von dem Wasser, das sich allerdings wieder mit den Resten des Löschschaums am Mundstück vermengte. Der Durst ging, ein metallisch-seifiger Geschmack blieb dieses Mal.
»Die Klimaanlage muss neu kalibriert werden. Ich deaktiviere sie jetzt und stelle sie neu ein.«
Schlecht gelaunt, aber zu müde, um zu widersprechen, versuchte Peter wieder zu schlafen. Die Temperatur sank schneller als erwartet und er kramte im Halbschlaf eine goldene Rettungsdecke aus der Erste-Hilfe-Tasche hervor. Erneut fiel er in ein Wechselbad zwischen Bewusstsein, Halbschlaf und Tagtraum, dass immer wieder vom Rascheln der Rettungsdecke unterbrochen wurde. Am Ende übermannte Peter schließlich die Erschöpfung.
Er erwachte nur langsam, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Diese Berührung und das Wissen, hier oben alleine zu sein, waberten in einem unversöhnlichen Widerspruch in sein Bewusstsein und ließ ihn schließlich verstört die Augen aufreißen.
Auf dem Bildschirm tanzte wieder das Logo des Raumfahrtzentrums und erleuchtete den Innenraum der Kapsel scheinbar stärker als zuvor. Niemand war da. Wer hätte auch da sein sollen? Ein Traum.
Mühselig richtete sich Peter unter seiner Decke auf. Seine Hände wanderte über seinen feuchten Overall zu seinem Gesicht. Die Decke hielt nicht nur die Wärme sondern auch die Feuchtigkeit am Körper. Er wollte sich gerade die Augen reiben, als seine Linke an seiner Schulter vorbei kam. Sie war nass.
Wieder tippte ihm jemand auf die Schulter und dieses Mal spürte er die kleinen Spritzer des Aufschlags. Etwas tropfte auf ihn herab.
»Reka, Licht!«
Die unsanfte Erhellung ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Gleichzeitig tastete er über sich an der Decke herum, um die Herkunft der Tropfen zu lokalisieren. Die überhastete Bewegung fuhr Peter sofort in die verletzte Schulter.
»Aua! Scheiße! Reka! Hier tropft’s! Was ist das verdammt nochmal?«
»Wasser. Fluchen tut gut.«
»Woher kommt das Wasser zum Teufel?«
»Ja, Peter, lass es raus. Luftfeuchtigkeit bei 102 Prozent. Es handelt sich mit vierundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit um Kondenswasser, dass durch den Kalibrierungsvorgang entstanden ist. Die Auffangvorrichtung muss außer Funktion sein. Ich prüfe das. Kalibrierung der Klimaanlage bei sechsundsiebzig Prozent.«
»Fuck ...«
»Soll ich dich wieder Fuck nennen, Peter?«
Frustriert und sauer rieb sich Peter die Augen und schlug die Rettungsdecke zur Seite. Das stellte sich allerdings als äußerst unangenehm heraus, denn er war durch seinen eigenen Schweiß und das Kondenswasser mehr als feucht und in der Kabine herrschten gefühlte fünfzehn Grad. Sofort bekam er eine Gänsehaut und seine Stimmung rutschte in den Keller.
»Nein, zur Hölle! Mach einfach nur deinen Job und lass mich zufrieden!«
»Wer flucht, ist am Leben.«
Durch diese sonderbar philosophische Binsenweisheit vollends aus dem Konzept gebracht, bliebt Peter einfach nur still sitzen, fror und stellte sich zum wiederholten Mal die Frage, warum er überhaupt hier oben war. Schließlich gewann der Mangel an Wärme die Oberhand.
»Reka? Was ist nun mit der Klimaanlage?«
»Kalibrierung der Klimaanlage bei sechsundsiebzig Prozent.«
»Du warst vorher schon bei sechsundsiebzig Prozent! Wie lange willst du denn noch prüfen? Die Schadenskontrollroutine für die gesamte Kapsel ging ja schneller als die Kalibrierung dieser Scheiß Klimaanlage!«
»Fluchen tut gut. Der Einwand ist berechtigt. Die Kalibrierung wurde unterbrochen. Keine Rückmeldung seit vier Stunden, dreiundzwanzig Minuten und Siebenundfünfzig Sekunden. Error 873. «
»Scheiße!« Peter konnte es nicht fassen. »Scheiße, Scheiße, Scheiße! Halt, halt, halt. Vier Stunden? Wie viel Uhr haben wir überhaupt?«
»Bordzeit 05:27 Uhr. Starte Kalibrierung neu.«
»Moment. Ich frier’ mir hier den Arsch ab!«
»Die Wahrscheinlichkeit eines Gesäßverlusts durch Hypothermie liegt bei null Prozent.«
»Reka!«
»Ja, Peter?«
Ȁh, schon gut. Gibt es da nicht irgend so eine Notfallroutine zur Sonderbeheizung oder so?
»Es liegt kein Notfall vor. Alle lebenserhaltenden Parameter liegen innerhalb der normalen Bereiche.«
»Ich friere. Wie viel Grad haben wir hier drin eigentlich?«
»12,3 Grad Celsius.«
»Da ist ja jede Bahnhofshalle wärmer! Reka, heiz hier sofort auf!«
»Ohne Kalibrierung ist eine Inbetriebnahme der Klimaanlage nicht vorgesehen.«
»Scheiße!«
»Fluchen beruhigt.«
»Scheiße, verdammte Scheiße, Himmel, Arsch und Speicherbruch!«
Peter schlang die Arme um seinen nassen Brustkorb und versuchte sich warmzuzittern, was aber mit wenig Erfolg gesegnet war. Er ließ nachdenklich seine Augen wandern und der Sicherungskasten kam wieder in sein Sichtfeld.
»Kann man die Kalibrierung nicht irgendwie überbrücken?«
»Überbrückung nur durch Fachpersonal möglich.«
»Wie?«
»Überbrückung nur durch Fachpersonal möglich.«
»Ich bin hier aber der einzige.«
»Das ist korrekt.«
Wütend und frierend kaute Peter auf seiner Unterlippe. Er war dazu verdammt, mit einem weiblichen Bordcomputer herumzudiskutieren. Das erinnerte ihn an das ein oder andere Streitgespräch, das er mit seiner Exfrau geführt hatte. Wieder blitzten Erinnerungen an Christiane auf. Sie war auch immer ruhig geblieben. Der kurze Gedanke an ihre Ruhe bescherte ihm eine Idee.
»Reka, ich bin der einzige Mensch hier an Bord, korrekt?«
»Das ist korrekt.«
»Dann bin ich der Kapitän dieser Kapsel, richtig?«
»Das ist korrekt.«
»Also habe ich die Befehlsgewalt, richtig?«
»Korrekt.«
»Wie überbrücke ich die Kalibrierung der Klimaanlage?«
Reka blieb eine Weile stumm. Dann endlich antwortete sie.
»Sicherung 7C muss entfernt werden. Danach muss Sicherungsfassung 28 überbrückt werden.«
»Danke.«
Sofort machte sich Peter an den Sicherungskasten. Seine Finger waren inzwischen schon steif und klamm, was das Öffnen erschwerte. Endlich hatte er die Sicherungen vor sich und fand auch die beiden genannten Sicherungsfassungen. Sicherung 7C war gerade mal fingernagelgroß und kaum zu fassen. Sein Zeigefinger schmerzte durch die Entzündung, so dass er den Daumen und den Mittelfinger nehmen musste. Nach langen Momenten und einem übel eingerissenen Nagel hielt er das unscheinbare Stück Technik in der Hand. Blieb noch das Überbrücken von Nummer 28. Hätte Peter nicht so gefroren, wäre ihm vielleicht sogar ein Schmunzeln über die Lippen gekommen, denn er wusste sofort, wie er das zu bewerkstelligen hatte. Behutsam legte er die Sicherung ins Versorgungsfach und entnahm einen Kaugummi. Kauend faltete er die Aluminiumverpackung zu einem dünnen Streifen und steckte sie erst in den einen Pol, dann in den anderen. Die Feuchtigkeit, die Kälte, der Mangel an erholsamem Schlaf und der süße Kaugummi hatten ihn vergessen lassen, dass ein Sicherungskasten Strom führt. Ein heller Blitz blendete Peter und ein stechender Schmerz schoss ihm durch den Mittelfinger in den Arm. Die plötzliche Verkrampfung durch den Stromschlag ließ die Verletzung in der Schulter aufflammen. Er schrie.
Geblendet saß der frischgebackene Bordelektriker in seinem Sessel und hielt sich die rechte Hand. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Herz schlug wild gegen seinen Brustkorb und die Schmerzen im gesamten rechten Arm und der linken Schulter verklangen nur langsam.
Ein angenehm warmer Luftstrom blies aus dem Fußraum zu ihm empor.

markoose
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Let the Lala go on

Beitrag von markoose » Mo 24. Feb 2014, 17:28

Das Zittern ließ endlich nach und die Raumtemperatur normalisierte sich. Peter spürte jedoch immer noch sein Herz einem Gefangenen gleich, der anstatt an Gitterstäbe gegen seine Rippen pochte. Ihm war übel. Hand und Schulter schmerzten. Er biss die Zähne zusammen und besah sich die Hand. Sie sah übel aus. Der Nagel des Mittelfingers war so stark eingerissen, dass ein Teil des Nagelbetts offen lag. Auf der Kuppe war durch den Stromschlag ein kleine Brandblase entstanden. Die Wunde des Zeigefingers war jetzt zwar wieder geschlossen, aber unter dem dünnen getrockneten Wundsekret konnte man bereits Eiter erkennen.
Er wollte das Versorgungsfach öffnen, doch durch die verletzten Finger gestaltete sich das schwieriger als erwartet. Peter half mit der Linken aus und bereute es sofort wieder, da sich seine Schulter meldete. Er fluchte durch die zusammengepressten Zähne, als wollte er das Fach mit der bloßen Gewalt der Worte öffnen.
»Fluchen reinigt den Verstand.«
Schließlich öffnete er das Fach umständlich und fischte nach der Erste-Hilfe-Tasche. Gerade, als sie zum Vorschein kam, sah Peter, dass sie durch seinen Gebrauch in der letzten Nacht noch offen war und genau in dem Augenblick purzelte die Hälfte ihres Inhalts wieder zurück ins Fach.
»Herrgott, Scheiße!«
»Solange einer flucht, kann er wenigstens nicht singen, Peter. Wenn du Zuspruch brauchst, sage einfach SEELSORGE.«
»Halt die Klappe, Reka.«
»Die Schleusenklappe befindet sich r ...«
»Reka, Ruhe!«
Wieder vergingen einige Momente der Verrenkung und des Schmerzes, bis er das Meiste des Tascheninhalts auf dem Schoß hatte. Zufrieden entdeckte er darunter Desinfektionssalbe, Pflaster und eine Schere.
Zehn Minuten später war seine Zufriedenheit schon weiterem Frust gewichen, da die Salbe sich entschieden hatte, fest getrocknet in der Tube zu verbleiben, das Pflaster nicht mehr klebte und die Schere sich nicht recht mit der Linken bedienen lassen wollte. Als er sie dann in die schmerzende Rechte nahm, wurde klar, dass sie wohl noch nie geschnitten hatte und wahrscheinlich auch niemals schneiden würde. Die ursprüngliche Pflasteridee wich nun in weiteren zehn Minuten einem zu dicken aber festen und bequemen Verband, der gleich beide Finger umschloss.
Entnervt stopfte Peter die restlichen Utensilien zurück in die Tasche, schloss den Reißverschluss mit einem kräftige Ruck und warf sie zurück ins Versorgungsfach.
Er blies die Backen auf und sein tiefes Ausatmen bestätigte, wie anstrengend die letzten zwanzig Minuten gewesen waren. Peter gönnte sich einen Schluck Wasser.
»Wasservorrat bei zwanzig Prozent.«
Peter stutzte. »Reka, wie viel Liter Wasser hast du aufgetankt zur Verfügung?«
»18 Liter, Peter.«
»Wo ist das ganze Wasser hin, soviel habe ich doch gar nicht getrunken?«
»Überprüfe meine Daten. Einen Moment.«
Als Reka eine Weile schwieg, kam Peter ins Grübeln und musste sogar lächeln. Minzig hatte irgendetwas von Hygieneadapter gefaselt, doch er hatte es nicht ganz verstanden. Er würde hier oben wohl kaum verdursten. Es musste noch Wasser da sein.
»Prüfung abgeschlossen. Wasserverlust von 1,74 Litern durch deinen Konsum. Urin konnte über den Hygieneadapter nicht wiederverwendet werden. 0,3 Liter Körperschweiß wurden aufgefangen. Der Auffangbehälter ist immer noch nicht funktionsbereit. Differenz zwischen Wasserstand und Verbrauch ungeklärt.«
»Du willst mir erzählen, dass du nicht weißt, wo das ganze Wasser hingekommen ist? Soll ich den Behälter reparieren, oder was?« Noch während dieser Frage musste Peter an das Kondenswasser denken, durch das er aufgewacht war. »Was ist mit dem Kondenswasser?«
»Auffangbehälter für Kondenswasser bei 0,2 Prozent und nicht funktionsfähig. Verbleib des restlichen Wassers ungeklärt.«
»Und wann lande ich auf dem Mond?«
»Geschätzte Ankunftszeit auf dem Mond in 27 Stunden und 37 Minuten.«
»Zwanzig Prozent von 18 Litern ...« Peter rechnet nach. Ihm blieben noch gute dreieinhalb Liter für etwas mehr als einen Tag. Er wusste, dass ein Mensch etwa eineinhalb bis drei Liter Wasser am Tag brauchte, je nach körperlicher Anstrengung. Das Wasser würde also reichen. Zumindest bis zum Mond. Und seltsam war es doch. Was, wenn noch mehr Wasser einfach verschwinden würde? Hatte er ein weiteres Loch in der Kapsel, das Reka nicht bemerkt hatte?
Peter musste an all die Pannen denken, die er bis jetzt erlebt und mehr oder weniger gemeistert hatte. Gott hatte eine beschissene Art von Humor, wenn das lustig sein sollte. Warum konnte er nicht wie jeder andere halbwegs normale Mann in seinem Alter seine Zeit verbringen? Er könnte jetzt zuhause am Esstisch sitzen, und versuchen, seinem Sohn Tischmanieren beizubringen, seiner Tochter das aufreizende Magic-LED-Tattoo auf dem Oberschenkel auszureden und seine Frau davon zu überzeugen, am Wochenende nicht zur Schwiegermutter zu fahren. Aber nein. Peter Klein saß geschieden und ohne Familie in einem beschissenen Stück Weltraumversuchsschrott und war im Begriff, die ständige Forschungsstation auf dem Mond anzufliegen.
In diesem Augenblick spürte Peter das Gewicht der Welt auf seinen Schultern und wusste, dass er es nicht mehr lange tragen würde können. Er fühlte sich wie ein Insekt, das von einem Sektobot erwischt worden war. Sein Blick fiel auf einen der roten Knöpfe seiner Armlehne.
»War einst ein kleines Käferlein, Summ – Summ – summ.« Er begann, die Melodie weiter zu summen, da ihm der Text nicht einfallen wollte. »... hm, hm, hm ... zwei Flügelein.« Peter dachte wieder an seine Kindheit, an den Geruch seiner Mutter. Einem Ertrinkenden gleich, der nach allem greift, was sich ihm bietet, riss sich der Proband der Testreihe 1-22 schließlich aus der drohenden Starre.
»Reka, Musik.«
»Meine Zufallsroutine hat Let the LaLa go on von Magicspaceboy aus dem Jahre 2063 ausgewählt.«
Peter wusste, dass Reka etwas von Johnny Cash spielen würde, doch seine Hoffnung auf eine andere Art von Musik erstarb erst, als er die erste Takte von Jackson hörte.
Nun saß er da und hörte anstelle von Magicspaceboy wieder den Countrysänger aus dem letzten Jahrhundert, dieses Mal wenigsten in einem Duett. Trotz der aufmunternden Takte betrachtete er wie paralysiert abwesend seinen Verband.
Zu den Schmerzen in Hand und Schulter waren jetzt noch die in seinen Knien gekommen. Er hatte seine Beine schließlich schon seit über 17 Stunden nicht mehr richtig bewegt. Seit dem Stromschlag war ihm zudem speiübel und er hatte Hitzewallungen. Peter überlegte. Er musste sich irgendwie ablenken, um nicht durchzudrehen.
Für Hand und Schulter konnte er im Augenblick nichts tun. Genauso wenig gegen die Übelkeit, blieben also die Beine. Auf dem Monitor stand ihm die Auswahl der einzelnen Beschäftigungsmöglichkeiten zur Verfügung. Er wählte Fitness.
Die Countrymusik brach ab und im Nu öffnete sich ein neues Menü, das einen sofort an Wellnessoase denken ließ. Im Hintergrund war ein traumhafter Sandstrand, Palmen und Meer zu erkennen. Peter wählte Warm-up und war gespannt, was die Entwickler dieses Programms wohl dabei im Sinn gehabt hatten. Das Schema eines menschlichen Körpers erschien auf dem Monitor. Es war von oben zu sehen, die Umrisse des Sessels und der Kapsel waren nur angedeutet. Die Stimme, die die Anweisungen gab, wirkte sehr jugendlich und ließ Peter unwillkürlich an eine dieser Animateurinnen eines billigen Urlaubsclubs denken.
»Wir sind völlig entspannt. Zuerst heben wir unsere Knie abwechselnd an. Ganz locker, wir schütteln unsere Beine aus und unser Bewusstsein. Und eins, zwei, drei, vier ... und eins, zwei, drei ...« Gleichzeitig wurden die Beine auf dem Schema im Takt des Zählens farblich hervorgehoben.
Peter fühlte sich überhaupt nicht animiert und kam sich schrecklich dämlich vor. Skeptisch betrachtete er den Bildschirm und entdeckte schließlich am unteren Rand ein kleines Zahnradsymbol. Er tippte darauf. Die Stimme wurde unterbrochen und ein Einstellungsmenü öffnete sich. Hier konnte Peter wählen, ob er nur schematisch oder durch einen menschlichen Animateur angeleitet werden wollte und welches Geschlecht dieser haben sollte. Peter tippte passend zur der Stimme auf weiblich.
Das Menü verschwand und das Kapselschema wurde durch ein Bild des Kapselinnenraums ersetzt. Im ersten Moment meinte Peter eine Spiegelfunktion aktiviert zu haben, doch ihm gegenüber saß eine attraktive Frau in knapper Sportbekleidung ebenfalls in einem Kapselsitz.
Angenehm überrascht war Peter gespannt, was als nächstes geschehen würde und freute sich sogar ein wenig auf die anstehende Bewegung.
Als die Frau allerdings den Mund öffnete, fiel Peter die Kinnlade herunter.
»Hallo, ich bin Ramon, dein persönlicher Fitnesstrainer.« Aus irgendeinem unerfindlichem Grund hatte die Frau eine Männerstimme. Peter rief sofort das Einstellungsmenü wieder auf und aktivierte die Schemaeinstellung.
Die Lust auf Bewegung war ihm vergangen, aber irgendwann gewann die jetzt wieder weibliche frische Stimme die Oberhand und er begann dann doch, die Beine zu heben. Es tat höllisch weh, doch der Schmerz hielt Peter in der Gegenwart, in der Realität. Auf gewisse Weise war er sogar sein Verbündeter in diesem Chaos aus technischen Pannen und Computerfehlern. Der Schmerz zeigte ihm, dass er noch am Leben war.

markoose
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»Fluchen «

Beitrag von markoose » Sa 15. Mär 2014, 18:33

Peter saß keuchend in seinem Sessel und trank begierig aus dem Röhrchen neben seinem Kopf. Das Bewegungsprogramm war wider Erwarten sehr ansprechend gewesen und hatte ihn ganz außer Puste gebracht. Er hatte nur die Übungen für den Schulterbereich übersprungen und war jetzt ein bisschen stolz auf sich. Mittlerweile dudelten Johnny Cash und June Carter wieder durch den Innenraum.
Noch während des Trinkens wurde Peter klar, dass er in Bezug auf seinen schwindenden Wasservorrat genau das Falsche getan hatte. Doch der Gedanke der Reue wich sofort wieder dem entspannten Gefühl nach ausreichender Bewegung. Noch einen guten Tage und er würde mit den Wissenschaftlern auf den Mond einen heben.
Während sich Herzschlag und Atmung beruhigten, fingen die hektischen Akkorde des alten Countrysängers an, ihn zu stören. »Reka, Musik aus.«
Die Musik dudelt ungebremst weiter.
»Reka. Musik aus!«
Augenblicklich wurde der Song unterbrochen, nur um eine Sekunde später an genau der gleichen Stelle weiterzulaufen.
In diesem Moment wusste Peter nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Reka. mach die Musik aus.«
»Deaktiviere Musik.« Das Countryduo verbreitete ungebremst seine fröhliche Stimmung. Nach einer Weile stoppte das Lied wieder für einen Moment, allerdings nur, um dann wieder von vorne zu beginnen. Peter war, als hätte er einen Klang vernommen, der bei Computern üblicherweise Abbruch bedeutete. Er wollte schon protestieren, als ihm Reka zuvor kam.
»Das Programm antwortet nicht. Ich speichere das Fehlerprotokoll für eine spätere Überprüfung.«
Peter hatte gute Lust, einfach die Lautsprecher herauszureißen, doch das hätte auch das Ende der Kommunikation mit Minzig und Shakleton bedeutet. Nach ein paar der nervend fröhlichen Countrytakte fasste er sich wieder.
»Reka kannst du’s wenigstens leiser stellen?«
»Ja, Peter.«
Wieder war der Klang eines Programmabbruchs zu hören.
»Mischpultprogramm antwortet nicht. Ich speichere das Fehlerprotokoll für eine spätere Überprüfung.«
»Fuck! Soll ich mir jetzt den ganzen Tag diesen Scheiß anhören?«
»Beten hilft nischt, Fluchen schad't nischt.«
Peter geriet über Rekas Dialektzitat dermaßen außer Fassung, dass er für einen Moment sogar die Musik vergaß. Wer zum Teufel hatte diesen Bordcomputer programmiert?
Er würde sich wohl damit abfinden müssen, den folgenden Tag diese Musik zu hören.
»Reka, wie sieht es mit dem Verbleib des Wassers und der Funktion des Auffangbehälters aus?«
»Schadenskontrollroutine bei sechsundneunzig Prozent. Verbleib des Wassers immer noch ungeklärt.«
Peter musste mit Minzig sprechen. Warum meldete der sich nicht? Und diese bescheuerte Musik nervte entsetzlich. Sein Blick fiel auf Überreste der Pflaster, die noch auf seinem Sitz lagen, da hatte er einen Einfall. Dieses Mal griff er gleich mit links in das Versorgungsfach, achtete dabei allerdings auf die Geschwindigkeit seiner Bewegungen. Er wollte um keinen Preis erneut seine Schulter spüren. Während er bedächtig in dem Fach wühlte, dachte er flüchtig über eine Wiederholung dieser Nemec-Therapie nach. Sie hatte, außer ihn müde zu machen, überhaupt keinen Effekt erzielt, so verwarf er den Gedanken sogleich. Endlich hielt er in Händen, was er gesucht hatte. Geduldig zwirbelte er die beiden Wundauflagen aus Mull zwischen den Fingern seiner linken Hand. Als er mit dem Ergebnis schließlich zufrieden war, steckte er sich die beiden Stopfen in die Ohren. Es war nicht perfekt. Cash und Carter waren immer noch zuhören, aber bedeutend leiser. Die Tatsache, dass die Wundauflagen weit aus seinen Ohren herausragten und er einen nicht sehr professionellen Eindruck machte, scherte Peter wenig. Er schloss die Augen.
Er hatte Hunger und die letzten Stunden hatten ihn viel Kraft gekostet. Er versuchte sich die positiven Dinge klar zu machen. Seine Knie taten nicht mehr weh und die Übelkeit hielt sich in Grenzen. Die Heizung lief, die rechte Hand war versorgt und das Wasser würde bis zur Landung reichen. An die wollte er jetzt allerdings noch nicht denken. Wozu auch? Ihm fiel nichts ein, das ihn darauf vorbereiten hätte können.
Nach und nach gelang es Peter sogar, die Musik an den Rand seiner Wahrnehmung zu drängen. Er genoss die dumpfe Ruhe und verharrte eine Weile. Nach einer Zeit wechselte er behaglich die Position und setzte die Beine unter der Tastatur um, als sich der Teppich unter den Sohlen weich anfühlte.
Peter behielt die Augen geschlossen und versuchte, Ruhe zu bewahren. Dieses Mal wollte er den Schmerz in seiner Schulter verhindern und sich nicht plötzlich bewegen. Prüfend hob er abwechselnd die Füße und betastete den Untergrund. Ein schmatzendes Geräusch bestätigte seinen ersten Eindruck. Im Fußraum war es nass.
Er öffnete die Augen und wollte nachsehen, doch der Fußraum war durch die Tastatur verdeckt und zudem schlecht beleuchtet.
»Reka. Woher kommt die Flüssigkeit im Fußraum?«
»Es handelt sich um Wasser. Woher es kommt, ist nicht geklärt.«
Peter versuchte eins und eins zusammenzuzählen. Es fehlten etwa zwölf Liter Wasser. Sie waren vermutlich über Nacht verdunstet. Der Auffangbehälter hatte das Kondenswasser nicht aufgefangen. Aber wo war es dann?
»Reka, zeige mir einen Plan der Kapsel.«
Augenblicklich erschien auf dem Bildschirm eine detailreiche Darstellung der Kapsel. Peter wischte und tippte auf dem Schirm, um sich ein paar Stellen genauer anzuschauen.
»Ist es möglich, dass sich das Kondenswasser in der Nähe der Klimaanlage gesammelt hat und dort vereiste?«
»Berechne die Wahrscheinlichkeit, die verwertbaren physikalischen Größen und die vorliegenden Messwerte.«
Peter war sich sicher, so musste es gewesen sein. Trotz dieser weiteren Panne hatte er ein Gefühl des Triumphs. Er war ruhig geblieben und hatte wahrscheinlich sogar die Ursache gefunden. Sein Hochgefühl wurde allerdings von der unverzüglich folgenden Erkenntnis getrübt, dass ihn das nicht wirklich weiterbrachte.
»Annahme der Vereisung zu zweiundneunzig Prozent wahrscheinlich. Durch den Dauerbetrieb der Heizung taut dieses Eis jetzt ab und da es sich bereits unterhalb des Auffangbeckens befindet, kann es nur über die Lüftungsschlitze in den Fußraum fließen.«
»Was passiert, wenn du die Lüftung abschaltest oder schließt.«
»Achtung! Eine Regulierung der Atemluft wäre dann nicht mehr möglich. Es bestünde akuter Gefahr einer Kohlendioxidvergiftung.«
»Na toll.« Er betrachtete den Fußraum und schätze des Fassungsvermögen. Wenn es tatsächlich die vollen zwölf Liter waren, die gerade abtauten, stünde das Wasser am Ende gute zehn Zentimeter hoch. »Das bedeutet nasse Füße.«
Peter beugte sich nach vorne und berührte den Fußboden mit der Linken. Der Teppich war bereits tropfnass. Als er seine Fingerkuppen betrachtete, hatten sich die metallischen Rückstände des Schaums mit dem Wasser vermengt. Das Wasser konnte er abschreiben. Doch er hatte einen Vorteil, er konnte sich jetzt schon überlegen, was er mit dem Wasser im Fußraum anstellen sollte.
Er könnte es mit Beuteln in der Schleuse entsorgen, dann wären alle Beutel weg. Er könnte es trinken, irgendeine Vergiftung riskieren, es so aber über den Hygieneadapter und seinen Schweiß wieder dem Kreislauf zuführen. Das war eine blöde Idee. Abgesehen davon, dass er nie im Leben zwölf Liter Hals über Kopf hätte trinken können, müsste vorher bereits das Auffangsystem repariert werden. Er könnte das Wasser einfach lassen, wo es dann wäre und seine Füße auf irgendeinen Podest stellen. Wiedereinmal suchend schaute sich Peter in der Kabine um. Die Platzhalter für das Essen würden aufweichen, seine Kopflehne wollte er dafür nicht hergeben. Soviel zu seinem Vorteil, schon vorher darüber nachdenken zu können. Ihm schienen die Optionen auszugehen.
Peter entschied sich, erst einmal abzuwarten und weiter nachzudenken. Das Wasser würde aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso in den Fußraum laufen und so, wie er das sah, bekam er auch früher oder später nasse Füße.
»Reka, was passiert, wenn Wasser zehn Zentimeter hoch im Fußraum steht?«
»Sammle Daten, einen Moment bitte.« Auf dem Bildschirm erschien der kategorische Statusbalken, der dieses Mal aber doch recht schnell wuchs.
»Die Auslassventile der Klimaanlage in Fußbodennähe sind durch Wasser versperrt, die einströmende erwärmte Luft wird durch das Wasser gekühlt und umgekehrt wird das Wasser durch die einströmende Luft erwärmt. Die Luftfeuchtigkeit im Innenraum nimmt stark zu, was die Kondensierung des Wasserdampfes an der Kabinendecke und an den Fenstern zur Folge hat. Das Kondenswasser wird vom Auffangbehälter aufgenommen.«
»Ist der Auffangbehälter inzwischen repariert?« Peter sah einen Hoffnungsschimmer.
»Nein, Peter.«
»Nimmst du Schaden durch das Wasser im Fußraum?«
»Für die Funktion meiner zentralen Recheneinheit besteht kein Risiko und meine anderen Funktionen unterliegen bis auf die Klimaanlage keiner Beeinträchtigung.«
»Okay, okay. Was hat das für mich zur Folge.«
»Sammle Daten, einen Moment bitte.« Peter starrte auf den neuen Statusbalken, während er mit der Linken seine Unterlippe knetete.
»Wasser ist leitfähig. Achtung! Sicherheitshinweis! Vor der Inbetriebnahme stromführender Geräte und Wartungsarbeiten an der Kapsel wird gewarnt. Lebensgefahr!«
Peter verzog bei dem Gedanken an seine Aktion am Sicherungskasten das Gesicht.
»Für die normale Bedienung der Kapsel besteht kein Risiko. Für die Rettungsperson ist anatomisch keine Sitzposition möglich, in der der Wasserkontakt vermieden wird. Kontakt zwischen Wasser und Haut, der länger als zehn Stunden geht, kann zu schweren Erkrankungen führen. Achtung! Gesundheitsgefahr!«
»Was für Erkrankungen denn?« Peter konnte sich nicht recht vorstellen, was Wasser für Krankheiten hervorrufen sollte.
»Die Immersion - sie kommt vor allem im Fußbereich vor, deshalb wird die Erkrankung auch Immersionsfuß genannt. Er wird häufig bei Soldaten diagnostiziert, die sich lange in extrem feuchter Umgebung aufhalten müssen. Er kann Schmerzen und Fieber hervorrufen und zu großen Hautabschürfungen führen. Einzige Möglichkeit der Therapie ist die Trocknung der betroffenen Hautstellen.«
Reka hatte Peter gleichzeitig einige eindrückliche Bilder von Erkrankten gezeigt. Er dachte angestrengt über das Problem nach. June Carter trällerte gerade go ahead and wreck your health, was Peter wieder aus der Konzentration brachte.
»Reka, schalt dieses Gejodel ab, sonst krieg ich hier noch’n Kackreiz, verdammte Scheiße nochmal!«
»Fluchen ist die einzige Sprache, die alle Programmierer wirklich beherrschen.«
Peter musste mitten in seiner Wut lachen, was zu einem lauten Prusten führte.
»Außerdem ist eine Überreizung deiner Darmperistaltik unwahrscheinlich, da du nach meinen Messungen in den letzten zweiundzwanzig Stunden zu wenig gegessen hast.«
Peter begann jetzt erst richtig zu lachen. Er lachte so sehr, dass sogar seine Schulter wieder anfing zu schmerzen und trotzdem lachte er weiter und weiter.
Peter lachte und lachte. Sein Lachen ging von einem lauten Herauspoltern nach einigen Minuten in ein hohes tonlosen Keuchen über. Während er lachte, war er gleichzeitig völlig ruhig, abgeklärt. Sein ganzer Körper zuckte und wackelte vor Lachen. Sein Wangenmuskeln waren überspannt vor Lachen, seine Augen tränten und dahinter war ein völlig ruhiger Peter, der sich selbst betrachtete. Ein sonderbare Empfindung der Zweiteilung kam in ihm hoch. Peter kam der flüchtige Gedanke, wie in aller Welt ein Computerprogramm auf so einen Spruch kommen konnte. Er tat die Frage aber selbst wieder ab, als er sich daran erinnerte, dass dieses Programm lernfähig war. Außerdem war es ja schließlich von Menschen, von Programmierern, erschaffen worden. Deren Humor konnte Peter allerdings nicht immer teilen, dachte er nur an den einzigen hinterlegten Film. Schließlich beruhigte sich Peter ein wenig und das Lachen wurde zu einzelnen Glucksern. Dann fiel sein Blick auf seine rechte Hand und den übermäßig großen Verband und sofort verfiel er wieder in einen Lachkrampf, der sich in spitzen lauten Lachtiraden äußerte. Seine Schulter schoss immer wieder Schmerzen in den tiefen Rücken und die Brust und sein Herz schlug wie wild und selbst das ließ ihn immer wieder laut heraus lachen. Das Wasser im Fußraum war mittlerweile weiter angestiegen, sodass seine Turnschuhe bis zu den Sohlen darin standen. Selbst das unfreiwillige Platschen seiner Füße ließ ihn immer wieder auflachen.
Ein Blick auf die Missionsuhr zeigte ihm, dass er schon über zwanzig Minuten nur lachte. Das ernüchterte ihn und sein Bewusstsein gewann wieder die Kontrolle über seine Regungen. Schwer atmend lehnte sich Peter zurück. Sein Bauch schmerzte vor Anstrengung, sein Gesicht war verspannt und nass von Tränen und sein Zwerchfell zuckte nervös. Er blickte wieder auf die Uhr, 06:46 Uhr - noch 26 Stunden und 31 Minuten bis zum Mond. Er veränderte seine Sitzposition etwas und das Platschen seiner Füße entlockte ihm einen Gluckser, den er mit einem Aua quittierte, ein Jucken an der Hand, dann schlief er ein.

***

Ein Röcheln ließ Peter hochschrecken. Er schlug sich das Knie an der Tastatur und seine Schulter meldete sich sofort mit einem Stich in den Rücken. Sein linkes Ohr schmerzte und er hörte mit dem rechten besser.
Noch während er sich das Knie rieb, schaute er sich orientierend um. Sein Bauch schmerzte ebenfalls. Die Uhr stand auf 11:22. Peter wurde gewahr, dass er über vier Stunden geschlafen hatte. Die vergangene Nacht oder besser die letzten 24 Stunden hatten ihn mehr Kraft gekostet, als er zugeben wollte. Das Röcheln drang wieder in sein Bewusstsein und er erschrak von Neuem. Was war das?
Es kam aus dem Fußraum und schließlich wurde Peter klar, dass es kein Röcheln sondern ein Blubbern war und es stammte von den inzwischen unter der Wasserlinie liegenden Klimadüsen. Seine Füße standen bis über die Knöchel im Wasser, im warmen Wasser. Seine Bauchschmerzen verwandelten sich in einen schier unwiderstehlichen Harndrang. Trotz der Dringlichkeit seines Bedürfnisses bewegte er sich langsam, wollte er doch keinen erneuten Schmerz seiner Schulter riskieren.
Peter beugte sich nach vorne und tastete am Keyboard vorbei. Blind fischte er mit der Linken unter dem Sitz im Wasser herum und fand schließlich, was er suchte.
Der alte Speisebeutel schien ihm durchaus passend für sein Vorhaben. Dummerweise handelte es sich um den zweiten Püreebeutel, den er nach dem Brand noch fast voll achtlos in den Fußraum geworfen hatte. Diese Achtlosigkeit zahlte sich jetzt in ganzem Maße aus, als der nun aufgeweichte Inhalt mit einem Geräusch, dass an eine Campingtoilette erinnerte, ins Wasser platschte. Peter wusste, dass Dieses jetzt garantiert nicht mehr genießbar war.
Mit einem desillusionierten Seufzer machte er sich daran, in den Beutel zu pinkeln, denn Kartoffelpüree im Wasser war eine Sache, aber Urin?
Das Vorhaben erwies sich wieder als äußerst schwierig und nach dem der Beutel trotz größter Vorsicht ein paar Tropfen seines Inhalts über Sitzpolster und Oberschenkel verlor, musste Peter wieder leise fluchen. Obwohl Reka dies nicht kommentierte, musste Peter allein bei dem Gedanken an eine komische Bemerkung kurz lachen, was ihm einige weitere Tropfen auf dem Overall einbrachte. Endlich hatte er den Beutel in die Schleuse balanciert und drückte erleichtert auf die Taste. Balken rot, Zischen, Taste grün und nach der Bestätigung der automatischen Ansage war der Beutel weg.
Das schmerzende Ohr drang in sein Bewusstsein. Instinktiv fasste sich Peter an die linke Kopfseite und begriff sofort. Das Stück Mull, das er sich ins Ohr gestopft hatte, war rechts heraus gefallen. Links war es stecken geblieben und hatte über den langen Zeitraum Druckschmerzen verursacht. Vorsichtig zog er es heraus, um sogleich wieder gleichmäßig zu hören. Der Schmerz blieb.

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